Großbritannien:Warnung vor Brexit: Minus 4300 Pfund pro Haushalt

Glasgow Prepares For The Independence Vote

Stimmen die Briten tatsächlich für einen EU-Austritt, stellt sich für Unternehmen die Frage, nach welchen Regeln sie eigentlich mit dem Ausland handeln.

(Foto: Jeff J Mitchell/Getty Images)

Die britische Regierung warnt die Bürger, wie drastisch die Wirtschaft und damit ihr Einkommen unter einem Austritt aus der EU leiden würden.

Von Björn Finke, London

In einem eingängigen Satz fasst Schatzkanzler George Osborne die Ergebnisse einer neuen, 201-seitigen Studie des Finanzministeriums zusammen: Großbritannien ginge es nach einem Austritt aus der EU "auf Dauer schlechter, und zwar um 4300 Pfund im Jahr für jeden Haushalt". Mit dieser knackigen Zahl warb der Konservative am Montag dafür, dass die Untertanen Ihrer Majestät beim anstehenden Referendum für den Verbleib in der Union stimmen.

EU-Gegner in Partei und Regierung kritisierten die Berechnungen des Ministeriums. Zugleich machte Priti Patel, Arbeitsministerin und Austritts-Fan, Osborne Konkurrenz im Wettbewerb um die plakativste Warnung und die Aufmerksamkeit der Wähler. Sie sagte, die vielen Einwanderer seien Schuld daran, dass Briten für ihre Kinder oft keinen Platz in der Wunsch-Grundschule fänden. Die wenig subtile Botschaft: Raus aus der EU mit ihren offenen Grenzen, dem Nachwuchs zuliebe.

Am 23. Juni stimmen die Bürger darüber ab, ob ihr Land die Union verlässt. Die meisten Umfragen sehen die EU-Freunde knapp vorne, aber es wird ein enges Rennen. Die Regierung ist gespalten bei dem Thema - einer Schicksalsfrage nicht nur für die Insel, sondern für Europa. Siegt das Austritts-Lager, müssten wahrscheinlich sowohl Premier David Cameron als auch sein treuer Mitstreiter Osborne abtreten.

Um Unentschlossene für sich zu gewinnen, überbieten sich die Kampagnen für und gegen den sogenannten Brexit mit düsteren Warnungen, was dem Königreich nach einer Trennung oder bei einem Verbleib in der kriselnden EU blühen werde.

Wirtschaftliche Argumente spielen dabei eine große Rolle. Kein Wunder: Meinungsforscher haben ermittelt, dass sich beim Referendum viele Wähler davon leiten lassen, was Austritt oder Verbleib vermutlich für ihr Einkommen bedeutet.

Klar ist, dass die Unsicherheit über den zukünftigen Status des Königreichs der Wirtschaft bereits jetzt schadet. Manager zögern Investitionen oder Neueinstellungen hinaus, und das Pfund hat an Wert verloren, weil die Gefahr eines Brexit an den Finanzmärkten ebenfalls Sorgen weckt. Die Währungshüter der Bank of England warnen schon, wegen dieser Querelen könnte die Wirtschaft langsamer wachsen. Anzeichen dafür seien etwa, dass große Unternehmen weniger Kredite nachfragten oder dass sich die Geschäfte mit Gewerbeimmobilien deutlich abgekühlt hätten.

Die EU-Gegner hätten am liebsten ein Freihandelsabkommen

Personalvermittler berichten dafür über einen Boom von befristeten Verträgen: Sind Stellen zu besetzen, schrecken Firmen im Moment davor zurück, sie auf Dauer zu vergeben. Die Unternehmensberatung Deloitte befragt die Finanzvorstände britischer Konzerne regelmäßig zu den Risiken für deren Firmen. Nun kürten die Manager einen möglichen Brexit zur größten Gefahr.

Wirtschaftsführer im Ausland sind ebenfalls beunruhigt. Vergangene Woche besuchten Vertreter europäischer Unternehmerverbände Premierminister Cameron in 10 Downing Street, unter ihnen Markus Kerber, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Er warnte sehr unverhohlen, dass deutsche Firmen nach einem Sieg des Austrittslagers im Königreich erst einmal nicht investieren würden. "Unternehmen reagieren auf Unsicherheit, indem sie Investitionen herauszögern oder verringern", sagte er.

Siegen die Brexit-Fans am 23. Juni, würde sich für die Wirtschaft zwar direkt nichts ändern. Aber es wäre eben unklar, unter welchen Bedingungen Geschäfte über den Ärmelkanal hinweg in Zukunft möglich sind. Die britische Regierung - wohl unter einem neuen Premier - würde Brüssel mitteilen, dass das Land austreten will. Artikel 50 des EU-Vertrags beschreibt den Ablauf so einer Scheidung. Demzufolge blieben die Briten zunächst Mitglied. Sie hätten zwei Jahre Zeit, sich mit den anderen EU-Regierungen auf Regeln für die zukünftigen Beziehungen zu einigen. Die Frist kann verlängert werden.

Solange diese Diskussionen andauern, wäre ungewiss, ob britische Firmen nach dem Austritt weiterhin ohne Schwierigkeiten Produkte im gemeinsamen EU-Binnenmarkt verkaufen dürfen. Unter der gleichen Unsicherheit würden Unternehmen aus der Union leiden, die auf der Insel Geschäfte tätigen wollen.

Das Ministerium von Schatzkanzler Osborne berechnete in seiner Studie vom Montag, welche wirtschaftlichen Folgen verschiedene Arrangements zwischen den Briten und der EU hätten. Die Fachleute untersuchten drei Modelle: einmal eine Regelung, wie sie für Norwegen gilt. Dieser Staat ist nicht Mitglied der EU, aber im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Geschäfte zwischen Norwegen und der EU sind darum weitgehend problemlos möglich, doch im Gegenzug muss Norwegen die ganzen EU-Vorschriften umsetzen. Für Brexit-Fans ist das unattraktiv, und das Finanzministerium schätzt, dass die Wirtschaft im Vergleich zur Vollmitgliedschaft in der EU dennoch leiden würde.

Das zweite untersuchte Modell geht davon aus, dass es gar kein Abkommen zwischen London und Brüssel gibt und Exporte einfach gemäß den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) ablaufen werden. Hier wäre der wirtschaftliche Schaden im Vergleich zur Mitgliedschaft am größten, schreiben Osbornes Experten.

Das dritte Modell ist ein Freihandelsabkommen zwischen dem Königreich und der EU, so wie es etwa mit Kanada abgeschlossen wurde. Das ist die Lieblingsvariante vieler Brexit-Befürworter. Die Ökonomen schätzen, dass der Schaden geringer wäre als beim WTO-Modell. Trotzdem wäre die Wirtschaftsleistung Großbritanniens im Jahr 2030 um sechs Prozent geringer, als wenn das Land die EU-Mitgliedschaft behielte, heißt es. Damit wäre jeder Haushalt im Durchschnitt um 4300 Pfund oder 5300 Euro ärmer.

Klingt beeindruckend. Jetzt muss Osborne nur noch die Wähler überzeugen.

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