Wall-Street-Broker Ted Weisberg:Im Moloch des Mammons

Lesezeit: 5 min

Vor gut 40 Jahren fing Ted Weisberg als Broker an der New Yorker Börse an. Jetzt spürt er: Die goldenen Zeiten sind für immer vorbei.

Alexander Mühlauer

Ted Weisberg steht am Fenster und blickt aufs Meer, als suche er etwas. Einen Gedanken. Eine Antwort. Er greift zum Fernglas. Hier oben, in seinem Büro, 31. Stock, 60 Broad Street, New York, hat er den Überblick: Freiheitsstatue, dahinter die amerikanische Flagge auf Ellis Island; sie zeigt ihm jeden Tag, wie der Wind weht.

Broker Ted Weisberg: Er schafft es nicht, länger als vier Taga am Stück freizunehmen. (Foto: Foto: oh)

Wind, Wellen, Strömungen kann er nicht beeinflussen, das weiß Ted Weisberg - er segelt seit über 30 Jahren. An der Börse sei es genauso: "Jede Sekunde kann der Wind drehen." Zurzeit weht an der Wall Street ein sehr rauer Wind, so rau wie seit 80 Jahren nicht mehr.

Weisberg, 68, randlose Brille, weißer Haarkranz, ist Broker. Das hat er gelernt, das liebt er. Er schafft es nicht, länger als vier Tage am Stück freizunehmen. Hat er nie getan. Die Wall Street ist für Weisberg nicht weniger als das Leben. Sein Leben.

Montag bis Freitag fährt er um sieben Uhr morgens mit dem Six Train von Manhattans Upper Eastside, wo er wohnt, Richtung Downtown. In der U-Bahn liest er das Wall Street Journal und die Financial Times. An der Station Brooklyn Bridge/City Hall steigt er um. Weiter Richtung Süden. Dann: Wall Street.

Altmodischer Investor

New York City, Broad Ecke Wall Street, das ist - nein, das war Herz und Hirn des Kapitalismus. Das Epizentrum der Geldwelt. 100 Meter von der Börse entfernt hat Ted Weisberg seine Firma. Seit 1979. Sie heißt Seaport Securities, hat neun Mitarbeiter, auf dem Börsenparkett sind sie zu dritt. Sie arbeiten für 30 institutionelle Kunden und 10.000 private. Ist es ein ruhiger Tag, handelt Weisberg etwa eine Million Anteilscheine.

Seine Tochter Rebecca kümmert sich um die Abwicklung der Geschäfte, sein Sohn Jason um den elektronischen Handel im Börsensaal. Vergangenen Sommer, als die Krise begann, setzten die Weisbergs auf Energiekonzerne, große Banken, Chemie- und Pharma-Aktien, Müllfirmen.

Jason, der Junge, sagt: "Mein Vater investiert altmodisch. Er wehrt sich gegen neue Technologien." Damals, beim Hype um die New Economy haben die Weisbergs nicht mitgemacht. Zu spät hat Ted die Internet-Freaks als Geldbringer entdeckt. So spät, dass er dann lieber die Finger davon ließ. Heute sagt Ted, der Alte: "Gut, dass wir auf dieser Welle des Wahnsinns nicht mitgesurft sind."

Privat verkauft er seine Aktien so gut wie nie, der Wert soll langfristig steigen, das ist ihm wichtig. Mit hochspekulativen Wetten und kurzfristigen Gewinnen kann Ted nichts anfangen. "Zu viel Stress", sagt er.

"Same shit, different decade"

Als Ted Weisberg vor gut 40 Jahren an der Wall Street als Wertpapierhändler anfing, handelten die Männer auf dem Parkett mit Zetteln, oder sie riefen sich ihre Gebote, Geschäfte, manchmal auch Gebete zu.

1976 kam ein Handelssystem, das Anlegern ermöglichte, ihre Geschäfte ohne Broker zu machen. Gut zwanzig Jahre später, 1997, kam der Handcomputer.

Auf dem Parkett wurde es leise. Wer in New York heute noch den Lärm und das Gewusel der Trader sehen und hören will, muss in die New York Mercantile Exchange (Nymex), die größte Warenterminbörse der Welt.

Im großen Börsensaal der Wall Street ist es viel stiller. Vor allem, weil seit 2005 alles über die elektronische Handelsplattform Archipelago läuft. Der Parketthandel ist ein Anachronismus. Etwas, das man nicht mehr braucht. Man spürt, in New York, diesem gigantischen Moloch des Mammons, geht etwas zu Ende. Die Wall Street verschwindet.

Einer Stadt, die sich stets neu erfindet, dürfte das nichts ausmachen. Eigentlich. Man kann in New York tief stürzen - aber dann kommt es darauf an, wieder aufzustehen.

Es ist diese Verheißung, dieses Versprechen, das seit jeher Menschen aus aller Welt in den urbanen Canyon zwischen Hudson und East River lockt. Wie es aussieht, wird die Auferstehung diesmal verdammt hart. Mit dem lakonischen Wall-Street-Motto "Same shit, different decade" habe diese Krise, so Ted Weisberg, nichts zu tun.

Früher, ja früher, war es besser. Da hatte die Welt der streng gebundenen Krawatten und Nadelstreifenanzüge vor allem eines: Glamour. Ein Überbleibsel dieses Glanzes kann man in der vierten Etage der New Yorker Börse besichtigen: den Stock Exchange Luncheon Club.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, wie häufig Ted Weisberg bereits Momente erlebte, in denen nichts mehr so ist, wie es einmal war.

Der Club war die "letzte Bastion des Kapitalismus" - mit diesem Slogan warb der exklusive Verein, als er 1898 von Aktienhändlern, Investoren und Industriellen gegründet wurde. Er sollte, so steht es in der Satzung, als "ruhiger, würdevoller Rückzugsort" dienen.

Die Händler durften damals nicht auf dem Parkett essen, und so lief um die Mittagszeit ein Botenjunge durch die Menge und rief: "Lunchtime!" Also schön: schieben, drücken, rempeln - um noch einen der begehrten freien Plätze zu erwischen.

Aber schnell sein allein genügte nicht: Wer keinen Anzug und Krawatte trug, kam nicht rein; Frauen mit "nackten Armen" wurden von den Kellner abgewiesen. Im Club tafelten Finanzgrößen wie John P. Morgan, Andrew Carnegie oder Aktienhändler wie John "Black Jack" Bouvier, der Vater von Jacky Kennedy Onassis.

"In den Achtzigern ging es gemütlicher zu"

Die Kellner balancierten Silbertabletts mit Austern, Champagner oder Tomaten-Klaffmuschel-Saft durch den protzigen Club. Am Nachmittag stahlen sich Trader vom Parkett hierher, um einen Gin Tonic zu trinken oder sich kurz hinzulegen.

Heute trinkt, liegt, steht hier niemand mehr. Heute kann keiner mal schnell weg vom Parkett. Keine Minute. In dieser Minute könnte sich die Welt verändern. So wie am 15. September 2008, als die einst legendäre New Yorker Investmentbank Lehman Brothers pleite ging.

Ted Weisberg isst mittags ein Sandwich. Auf dem Parkett. Im Stehen. Gerne eines mit Erdnussbutter und Marmelade. Im Luncheon Club ist er sehr lange nicht mehr gewesen. Keine Zeit.

"In den Achtzigern ging es gemütlicher zu. Aber ich will mich nicht beklagen", sagt er. Weisberg ist kein sentimentaler Typ. Als Broker kommt man da nicht weit. Das Ende des Clubs trifft ihn nicht besonders. War gut, war schön, war geil. That's it.

Jetzt ist Krise. Wahnsinn. Absturz. Vielleicht, sagt Ted Weisberg, vielleicht muss ich doch bald raus hier. Sagt er und erzählt vom vergangenen Dienstag, als er mal wieder in Harry's Bar am Hanover Square vorbeischaute, gleich bei der Börse ums Eck.

Was er dort sah, gefiel ihm nicht: ernste Gesichter, voller Sorge, voller Angst. Früher, sagt Ted Weisberg, früher waren wir Gegner auf dem Parkett, aber nach Börsenschluss waren wir Freunde.

Die Händler feierten in Harry's Bar, ließen dort den am Tag aufgestauten Dampf ab. Die jungen Aufsteiger, die alten Etablierten, sie alle waren eine Gemeinschaft, die stolz auf das war, was sie tat. Und heute: Geld ausgeben, gut Essen, gut Feiern, ab und zu einen Joint? "Alles passé", sagt Ted Weisberg. Alles passé. Tristesse monétaire.

Keiner hat Antworten

Das Geld, die Arbeit, das Glück - dieser Dreiklang war der Lebensinhalt von Wall-Street-Händlern wie Weisberg. Arbeit ist noch da, Geld und Glück sind weg, aus, vorbei.

Es ist schon erstaunlich, sagt Ted Weisberg, wie auf einen Schlag alles nicht mehr so ist, wie es einmal war. In seinem Leben gab es schon zwei dieser Momente: seine Scheidung und Nine Eleven. Jetzt passiert es ein drittes Mal: Nichts ist mehr so, wie es einmal war.

Am Abend will sich Weisberg mit Kunden treffen. Sie wollen Steaks essen. Und übers Segeln plaudern. Über Strömungen, Wellen und den Wind. Die Krise spült jeden Tag neue schlechte Nachrichten in die Stadt, die niemals schlafen will.

Wann es endlich wieder good news geben wird, werden die Kunden Ted Weisberg fragen. Er wird ihnen nicht antworten. Er wird mit den Schultern zucken. Was soll er auch sagen? Keiner weiß die Antwort. Keiner.

Bevor Weisberg die Kunden trifft, geht er nochmal in sein Büro, im 31. Stock, 60 Broad Street, New York. Er geht zum Fenster und blickt aufs Meer, als suchte er etwas. Einen Gedanken. Eine Antwort. Irgendwas. Egal was.

© SZ vom 01.12.2008/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: