Wachstum:Im Zeitalter der Verlangsamung

Warum die Wirtschaft in den Industrienationen kaum noch wächst, ist eines der größten ökonomischen Rätsel unserer Zeit. Auch die Digitalisierung ändert daran bisher wenig.

Von Jan Willmroth

Ohne den Siegeszug des Automobils wären die großen Städte wohl irgendwann im Pferdemist untergegangen. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert war das eine reale Gefahr: Die Zahl der Pferde, eingesetzt in Häfen, an Bahnhöfen und in privatem Besitz, war schneller gestiegen als die Stadtbevölkerung, und mit ihr der Dreck in den Straßen. 1894 sagte die britische Times voraus, bis 1950 werde jede Straße in London drei Meter tief in Pferdeexkrementen versunken sein.

Das Problem erledigte sich von allein, als wenige Jahre später Autos mit Verbrennungsmotor die Pferde ablösten. Lange Reisen waren plötzlich einfacher, Lkw transportierten Güter in einem Bruchteil der zuvor benötigten Zeit quer durchs Land. Eine Mobilitätsrevolution. Und einer der wichtigsten Gründe, warum die Welt im 20. Jahrhundert ein Wirtschaftswunder erlebte: Nie gekannte Wachstumsraten, unglaubliche Wohlstandsgewinne, gigantischen technischen Fortschritt.

Wo der Wohlstand wächst, gibt es mehr zu verteilen. Und wo der Wohlstand nicht wächst?

Jetzt geschieht wieder eine Revolution, zumindest gibt es viele, die sie so bezeichnen. Die Digitalisierung verändert das Leben und die Art zu wirtschaften, ihre im Silicon Valley geborene Verheißung rückt sie in die Nähe der verschiedenen Stufen der Industrialisierung: Webstuhl, Dampfmaschine, Elektrizität - digitale Vernetzung. Vor wenigen Tagen stieg das soziale Netzwerk Facebook zwischenzeitlich auf Platz vier der wertvollsten Firmen der Welt auf, hinter Apple, Google und Microsoft.

Auf einen großen Schub, der mit dem vergleichbar wäre, was Verbrennungsmotor, Heiztechnik oder die Petrochemie seinerzeit ausgelöst haben, wartet die Welt aber bisher vergeblich. Die Wirtschaft in den Industrieländern hat ein Problem, dessen Folgen schon sichtbar und dessen Ursachen umstritten sind: Sie wächst nur noch langsam, in Amerika, in Europa, im technikverliebten Japan sowieso - und derzeit auch in den meisten Schwellenländern. Ökonomen stehen damit vor einem Widerspruch, vor dem derzeit größten Rätsel ihrer Wissenschaft.

Von der Lösung dieses Rätsels hängt die Zukunft der Industrieländer ab. Wirtschaftliches Wachstum löste stets alle möglichen gesellschaftlichen Probleme fast von allein, denn wo Wohlstand wächst, gibt es auch mehr zu verteilen. Wer hart arbeitet, so das Versprechen spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg, hat in der Zukunft mehr zum Leben, und dessen Kinder haben es besser. Es lohnte sich, zu sparen, denn das Ersparte wuchs mit der gesamten Wirtschaft. Das Vertrauen auf das Wachstum ermöglichte den Sozialstaat, effiziente Gesundheitsversorgung, staatliche Ausgaben, die höher waren als die Steuereinnahmen.

Das war einmal. Die USA haben gerade zwei Quartale mit einem Wachstum von mageren 0,3 Prozent hinter sich. Die aggressive Geldpolitik der EZB hielt die Euro-Zone am Leben, doch die wächst trotz der Geldschwemme seit Jahren mit weniger als zwei Prozent pro Jahr. In Japan versucht Premierminister Shinzo Abe verzweifelt, die Rezession abzuwenden. Großbritannien steht vor dem Abschwung. In einigen der größten Schwellenländer ist die Lage kaum besser. Institutionen wie IWF und OECD haben mehrmals ihre Wachstumsprognosen nach unten korrigiert.

Das alles wäre noch kaum Grund zur Sorge, wenn es sich nur um Spätfolgen der Finanzkrise oder eine vorübergehende Konjunkturschwäche handelte. Die Ursachen des schwachen Wachstums aber liegen tiefer. Seit den 70er-Jahren steigen die Pro-Kopf-Einkommen und die Produktivität in den Industriestaaten immer weniger schnell. Produktivitätssteigerungen sind eine der wichtigsten Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum in der Zukunft. Am einfachsten lässt sich die Produktivität messen als Wertschöpfung pro geleisteter Arbeitsstunde - ein Land wird produktiver, wenn es mit gleichbleibendem Einsatz mehr erwirtschaftet. Zugleich hat die "totale Faktorproduktivität" nur geringfügig zugelegt. Die Größe zeigt an, wie produktiv eine Volkswirtschaft Arbeit und Kapital in Kombination einsetzt. Die Wirtschaftskrise von 2008 an hat diese langfristigen Entwicklungen verstärkt.

Wissenschaftler haben deshalb einen alten Begriff hervorgeholt: Lawrence Summers, Harvard-Ökonom und Ex-Finanzminister der USA, vermutet eine "säkulare Stagnation" - eine lange Phase, in der die Wirtschaft kaum noch wächst. Andere sprechen vom "Produktivitäts-Paradoxon": Obwohl das Computerzeitalter der Welt Desktop-Rechner, schnelles Internet und Smartphones gebracht hat, blieb ein Produktivitätsschub, wie er bei den vorhergehenden Stufen der Industrialisierung zu beobachten war, bislang aus. Der US-Ökonom Robert Gordon glaubt sogar, die Zeit großer, weltbewegender Erfindungen sei vorüber: "Es gibt eine Fülle von Innovationen, aber sie verändern das Leben nicht mehr so umfassend wie der Luftverkehr oder die Elektrizität."

Waren also die hohen Wachstumsraten, die es bis zu Beginn der 1970er-Jahre gab, ein vorübergehendes Phänomen? Müssen wir uns also an die niedrigen Wachstumsraten von heute gewöhnen? Folgt also auf die Ära der Beschleunigung, ausgelöst durch Dampfmaschine, Strom und Fließband, nun ein Zeitalter der Verlangsamung? Wenn es so wäre, dann stünde eine Zukunft bevor, in welcher der Lebensstandard der Jüngeren nicht mehr so wächst wie zur Zeit ihrer Eltern und Großeltern.

Uwe Sunde, Ökonom an der LMU München, hält diese Sorge für berechtigt. Er hat in langen Zeitreihen Muster erkannt, die sich in den meisten Volkswirtschaften ähnlich zeigen: Die Lebenserwartung steigt, Menschen gehen länger zur Schule, bekommen weniger Kinder, lernen und arbeiten länger; die Erschließung neuer Märkte befeuert das Wachstum. "All das sind Einmaleffekte, die mir an Wirkung zu verlieren scheinen", sagt Sunde. Hat ein Land wie Deutschland eine solche Entwicklung abgeschlossen, könnte demnach irgendwann Schluss sein mit der Beschleunigung - und die Wachstumsraten sinken wieder auf ein niedrigeres Niveau.

0,6 Prozent

betrug das Produktivitätswachstum Deutschlands im vergangenen Jahr. Die Produktivität, gemessen als Leistung pro Arbeitszeit, gilt als Kenngröße der Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft - und als wichtige Voraussetzung für steigenden Wohlstand. Im Jahr 1977 stieg die Produktivität noch um 4,1 Prozent, seither sinkt sie. Dieser Trend ist in nahezu allen entwickelten Ländern zu beobachten. Ökonomen erwarten deswegen eine lange Phase niedrigen Wirtschaftswachstums.

Mehrere Entwicklungen bremsen das Wachstum derzeit aus. Robert Gordon, der 75-jährige Forscher von der Northwestern University in Chicago, hat die Gründe dafür in einem viel diskutierten Buch dargelegt und erklärt, warum der Wohlstand in den entwickelten Staaten nicht mehr so schnell wächst wie früher.

Erstens: die Demografie. Menschen und Gesellschaften werden älter, anteilig arbeiten weniger Menschen als zuvor, das Pro-Kopf-Einkommen steigt langsamer.

Zweitens: die Bildungsdefizite in Teilen der Bevölkerung. Wer schlecht ausgebildet ist, der ist nicht so produktiv - oder findet überhaupt keinen Job mehr.

Drittens: die wachsende Ungleichheit. Vermögen und hohe Einkommen konzentrieren sich stärker in den Händen einer Minderheit, die Reichen aber geben - anders als ärmere Menschen - das viele Geld nicht komplett aus. Deshalb stagnieren die Konsumausgaben. "Das verfügbare Einkommen der unteren 99 Prozent der Bevölkerung" wird zukünftig langsamer wachsen", prophezeit Gordon.

Viertens: die steigenden Schulden. In den USA und vielen Ländern Europas übersteigen die gesamten Staatsschulden mittlerweile die jährliche Wirtschaftsleistung. Wenn die Wirtschaft aber nicht mehr nennenswert wächst, können die Staaten aber kaum ihre Verschuldung abbauen - sie müssen deshalb sparen, können weniger investieren, und die Wirtschaft wächst in der Folge noch langsamer. Genau das ist in den Industrieländern gerade zu beobachten - und das, obwohl die Notenbanken die Zinsen auf null gesenkt haben und Kredite so günstig sind wie noch nie.

"Ein Reichtum, der alles übersteigt, was die Menschheit je gesehen hat."

Wenn aber das Zeitalter der Verlangsamung längst begonnen hat, was bleibt dann? Woher soll das Wachstum kommen, wenn die Bevölkerung altert, die Schulden die Regierungen einengen, die Ungleichheit wie eine Bremse wirkt und die digitale Revolution möglicherweise keine ist?

Auf der Suche nach Antworten gelangt man zu jenen Optimisten, die trotz allem an die Kraft der Innovation glauben. Man müsse dazu nur geduldig sein, argumentieren die Ökonomen Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee vom Massachusetts Institute of Technology (MIT): Auch bis die Elektrifizierung ihre volle Wirkung auf Wirtschaft und Wachstum entfaltet habe, seien fast hundert Jahre vergangen. Jede neue Technologie brauche ergänzende Innovationen - im Falle der Digitalisierung mag das die bevorstehende Vernetzung von Maschinen und Bauteilen sein. "Fundamental sind die Voraussetzungen für einen Reichtum vorhanden, der alles übersteigt, was die Menschheit je gesehen hat", schreiben die beiden Bostoner Forscher. Mit anderen Worten: McAfee und Brynjolfsson glauben fest daran, dass auch Produktivität und Wachstum in zwei, drei Jahrzehnten wieder steigen.

Die Pferdemist-Krise im ausgehenden 19. Jahrhundert jedenfalls ist ein Anlass zur Hoffnung. Damals lagen, wie so oft, die Pessimisten mit ihren Prognosen falsch.

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