Von der antiken Münze bis zum faulen Kredit von heute:Denn sie wussten nicht, was sie taten

Seit fast 80 Jahren gab es keine Krise wie 2008. Während sich die Wertschöpfung in der Finanzwelt von der Wirklichkeit entfernte, passierte dasselbe mit Preisen für Gegenwartskunst.

Von Jan Willmroth

Dieser Tag würde die Zeitrechnung neu sortieren, und er wusste das. Es war mitten in der Nacht, als Dick S. Fuld, Jr. mit zerknittertem Hemd und verrutschter Krawatte das schummrige Schlafzimmer seines Anwesens in Greenwich, Connecticut, betrat und sich auf die Bettkante setzte. Seine Frau hatte auf ihn gewartet. "Es ist vorbei", mehr musste er nicht mehr sagen. "Es ist wirklich vorbei." Sie blickte ihn an und erwiderte nichts. "Die Fed hat sich gegen uns gestellt." Es war zwei Uhr in der Früh, und während sich ihr Chef Dick Fuld in einer schwarzen Limousine durch die Dunkelheit fahren ließ, beantragte die Investmentbank Lehman Brothers um exakt 1.45 Uhr am 15. September 2008 Gläubigerschutz.

Es war vorbei, und die Panik begann gerade erst. Die viertgrößte Wall-Street-Investmentbank war nach 158 Jahren gefallen. Die britische Finanzaufsicht hatte die Übernahme durch die Londoner Bank Barclays am Wochenende kurzfristig verhindert; die US-Administration ließ es geschehen. Die Krise des Finanzsystems hatte ein neues Level erreicht. Wem es zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar war, der wusste jetzt: Die Banken hatten in den Jahren zuvor ein Dominospiel aufgereiht, dessen Steine längst umstürzten. Mit verbrieften Häuserkrediten, gestückelt in hoch komplexe Wertpapiere, hatte die Finanzelite erst Milliarden verdient und dann verzockt. Welche Bank würde die nächste sein? "Das ist ein ökonomischer elfter September", warnte der damalige US-Finanzminister Henry Paulson wenig später bei einem Treffen mit Notenbankern in Anspielung auf die Anschläge von 2001.

Was mit einer Preisblase auf dem Häusermarkt in den USA begonnen und sich von der Wall Street zu einem globalen Desaster ausgewachsen hatte, stürzte fast die gesamte Welt in die heftigste Rezession seit der Weltwirtschaftskrise 1929. Viele Millionen Menschen verloren ihre Arbeitsplätze. Regierungen wandten Hunderte Milliarden an Steuergeldern auf, um überschuldete Banken zu retten und einen Total-Kollaps zu verhindern. Die Weltwirtschaft ging in die Knie. Dabei hatte der US-Notenbankchef Ben Bernanke doch schon im März 2007 gesagt, der Einfluss der "Probleme" im Markt für Hauskredite auf die Gesamtwirtschaft und die Finanzmärkte sei bereits begrenzt.

Mitnichten. Die Zauberkunst der amerikanischen Finanzakrobaten hatte sich vom Heilsversprechen in großes, globales Unheil verwandelt. Auf einmal stand wieder nicht weniger als das gesamte Prinzip kapitalistischen Wirtschaftens infrage.

Woanders waren die Auswüchse der Kreditblase noch zu beobachten, als passiere gerade nichts: auf dem Kunstmarkt. Einige Menschen, die in den Jahren des Booms sehr viel Geld verdient hatten, waren bereit, sehr viel davon für Kunst auszugeben. Damien Hirst hatte sich auf diesen 15. September lange vorbereitet. Hunderte seiner Werke ließ er wochenlang in London ausstellen, um sie an zwei Tagen im Auktionshaus Sotheby's zu versteigern. Der Sitz von Sotheby's in der New Bond Street habe einem "Paralleluniversum" geglichen, war daraufhin zu lesen. 218 Kunstwerke, zehn Säle, ein ganzes Museum zum Leerkaufen, Superreiche von überall; Hirst war noch nicht einmal erschienen.

Drüben im Canary Wharf, dem wenige Kilometer entfernten Londoner Bankenquartier, trugen verzweifelte Verlierer des Finanzdesasters gerade ihre Pappkartons aus den Glastürmen, Fotoapparate klickten, Übertragungswagen schickten die Bilder vom Zusammenbruch um den Globus. Auch hier traf es die Lehman-Beschäftigten, ein Spiegel der ikonografischen Krisenbilder aus Manhattan.

Nicht wenige hatten geglaubt, die Zeit großer Krisen in den reichen Ländern sei vorbei

Während die Finanzmärkte gerade implodierten, machte der bestbezahlte lebende Künstler den Kunstmarkt selbst zum Teil seiner Kunst. Es galt als Traditionsbruch, Galeristen und Kunsthändler zu umgehen. Die meisten der versteigerten Werke waren neu und eigens für diese Auktion angefertigt. "Gold Summer" war darunter, eine Leinwand mit präparierten Schmetterlingen und Diamanten auf goldenem Grund, als Teil einer Serie über die Sage vom antiken König Midas, dessen Berührung jeden Gegenstand zu Gold werden ließ. Hirst wurde spätestens mit dieser Auktion der König des Kunstmarkts. Bis zum 16. September hatte er 198 Millionen Dollar eingenommen. Es war die höchste Summe, die je bei einer Auktion für einen einzelnen Künstler erzielt wurde.

"Die Menschen sind stets besorgt, dass Geld die Kunst irgendwie abstumpfen lässt. Aber ich fand es immer widerlich, dass Leute wie van Gogh nie Geld verdient haben", sagte Hirst danach. "Es ist wichtig, dass die Kunst immer Vorrang vor dem Geld hat."

Was im September 2008 auf den Finanzmärkten passierte, war auch die Folge einer Kombination von Ignoranz und falschen Erwartungen. Francis Fukuyama hatte 1992 den Leitspruch vom "Ende der Geschichte" geprägt. Nach der Niederlage des Sowjetsozialismus würden sich die liberale Demokratie und die Markwirtschaft westlicher Prägung bald überall auf der Welt durchsetzen. Die Globalisierung, die in den Neunzigerjahren die Märkte fast aller Länder immer stärker miteinander vernetzte, passte gut zu dieser These.

Wenn man nun auch noch die Effizienz der Kapitalmärkte internationalisierte, war die logische Folge eine größere, weltweite Stabilität. Mitte der Achtzigerjahre hatte die Great Moderation eingesetzt (zu deutsch etwa: Große Mäßigung), eine Phase sehr geringer konjunktureller Schwankungen in den Industrieländern. Entscheidende makroökonomische Größen wie das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts, die Inflation, die Industrieproduktion oder die Beschäftigung schlugen nicht mehr heftig aus. Das Ende der Geschichte, und damit einhergehend das Ende großer Krisen von systemischem Charakter: Nicht wenige glaubten, so würde das dauerhaft bleiben.

Dieser Glaube hatte viel mit der größeren Unabhängigkeit und Macht der Zentralbanken zu tun. Der damalige Staatssekretär Paul Volcker hatte 1971 in der Entscheidung von US-Präsident Richard Nixon, die Gold-Bindung des Dollars aufzuheben, eine tragende Rolle gespielt. Das setzte die Welt einem System freier Wechselkurse aus und gab den Zentralbanken einen viel größeren Handlungsspielraum. Volcker wurde 1979 Chef des US-Notenbanksystems; ihm wird zugeschrieben, mit strenger Geldpolitik die Phase der Stagflation in den USA der 1970-er Jahre beendet zu haben, eine schwierige Zeit der hohen Inflations- und niedrigen Wachstumsraten. Die Inflation sank von ihrem Rekordniveau von 14,8 Prozent im Jahr 1980 binnen drei Jahren auf unter drei Prozent.

Natürlich wusste man, dass Krisen in der Ökonomie keine Ausnahmen sind. Am "Schwarzen Montag" im Oktober 1987 krachte es an den Weltbörsen, innerhalb kürzester Zeit wurden gigantische Werte vernichtet. Es war der erste große Börsencrash seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Es war auch der erste Crash, an dem Computer beteiligt waren. Die sich anbahnende Digitalisierung des Börsenhandels hatte es in den 80-er Jahren erstmals ermöglicht, große Wertpapierpakete auf einmal per Computerbefehl zu handeln. Mit automatischen Kauf- und Verkaufsaufträgen sicherten sich Händler gegen Kursstürze ab. Im Nachhinein stellte sich heraus: Das hatte den Kursverfall während der Börsenpanik nur noch verstärkt.

Heute sind die großen Banken größer denn je. Das Finanz-Kasino ist wieder bestens besucht

Einen Vorgeschmack dessen, was der Welt Mitte der 2000-er Jahre bevorstand, sah darin aber kaum jemand. Genauso wenig wie in der Asien-Krise 1997, der Pleite des Hedgefonds Long Term Capital Management 1998 oder dem Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000. All diese Ereignisse wurden eher als Beispiele für die Effektivität der Geldpolitik interpretiert. Die wahrgenommene Allmacht der Zentralbanken machte es leicht, die Deregulierung des Finanzsektors dauerhaft zu rechtfertigen. Wenn die Notenbanken ein Übergreifen von Finanzkrisen auf die Realwirtschaft stets abwenden können, indem sie schnell Liquidität bereitstellen - wer sollte sich dann noch vor Verwerfungen an der Wall Street fürchten? Heute weiß man: Die US-Notenbank ließ nach den Anschlägen vom 11. September 2001 viel zu lange die Zinsen auf niedrigstem Niveau und befeuerte damit eine nie gekannte Kreditblase.

Im Schatten des Glaubens an die dauerhafte Stabilität war bis 2007 ein Finanzsektor herangewachsen, den niemand mehr kontrollieren konnte, dessen immer neue Erfindungen kaum noch jemand verstand und dessen wichtigste Akteure so vernetzt waren, dass die Schieflage des einen sofort am anderen Ende der Welt zu spüren war.

Im Jahr 2007 war die Welt der Hochfinanz längst virtualisiert. Tausende amerikanische Hypotheken von zweifelhaftem Wert waren gebündelt und als Kreditverbriefungen in unterschiedlichen Risikoklassen in alle Welt verkauft worden. Derivate hatten einen Abstraktionsgrad erreicht, der mit der zeitgenössischen Kunst mindestens Schritt gehalten hatte. Niemand wusste hinterher mehr, wie viel diese Papiere wert sein sollten. Bis zur Krise hatte der Wert der Finanzkonstrukte die globale Wertschöpfung um ein Vielfaches überstiegen. Geld wurde flüchtiger denn je. Gewinn und Verlust lagen nur noch Sekundenbruchteile auseinander. Werke wie Andreas Gurskys Fotografie "Chicago Board of Trade" von 1999 gibt es als Zeugnisse solcher Crashs nicht mehr. Was sich 2008 abspielte, geschah in Rechenzentren. Statt nervöser Händler auf dem Parkett sind Ziffern auf Bildschirmen hinter Glasfassaden geblieben und der Banker mit Pappkarton als Symbol des Scheiterns. Es blieb das Sinnbild vom "faulen Kredit".

Und heute? Ist das Finanz-Kasino wieder gut besucht. Die großen Investmentbanken sind größer als je zuvor. Die nächste Krise kommt garantiert. Liu Jianhuas Abbild von Shanghai, gebaut aus Spieljetons auf unsicherem Fundament, inspiriert die Ahnung davon, was als nächstes kommt.

"Gutes böses Geld. Eine Bildgeschichte der Ökonomie" ist eine Ausstellung der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden (bis 19. Juni). In Kooperation mit Casino, Stadtmuseum und Theater Baden-Baden. Die Süddeutsche Zeitung begleitet die Ausstellung mit dieser Serie. Und außerdem mit der Gesprächsreihe "Reden wir über Geld" mit Ökonomen: Am 3. Mai diskutiert die SZ mit Clemens Fuest in der Kunsthalle über gutes und böses Geld, am 7. Juni mit Marcel Fratzscher über Ungleichheit. Infos: www.kunsthalle-baden-baden.de

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