Versicherung:Eine Allianz fürs Überleben

Europas größter Versicherer hat den Anschluss an das digitale Zeitalter verloren. Jetzt imitiert er die Arbeitsweise von Start-ups, um mit den Angreifern fertigzuwerden. Ein Besuch im Labor.

Von Herbert Fromme

Konzentriert arbeitet die Programmiererin Denisse Zavala an ihrem Rechner. Die 29-Jährige muss das Projekt, an dem sie seit Monaten arbeitet, an diesem Tag abschließen. Dann geht es mit zwei Kollegen zurück nach London.

Die Mexikanerin mit Wohnsitz London ist derzeit intensiv damit beschäftigt, dem größten Versicherer Europas auf die Sprünge zu helfen. Sie arbeitet für Pivotal. Die Allianz Deutschland hat das junge Unternehmen aus Los Angeles angeheuert, um schneller voranzukommen bei der Digitalisierung. "Wir arbeiten gerade an einer Allianz-App für Apple-Geräte", sagt Zavala. "Sie gibt den Kunden den kompletten Überblick über ihre Verträge und über alle Dienstleistungen der Allianz."

"Wir", das sind acht Profis rund um einen großen Arbeitstisch mit zahlreichen Computern und Bildschirmen - drei von Pivotal, fünf von der Allianz. Sie sind Programmierer und Internet-Designer, einer ist zuständig für den Versicherungsaspekt der neuen App.

"Garage" nennt die Allianz das ganze in Anlehnung an Internet-Start-ups. In Wirklichkeit ist es ein gut klimatisiertes Bürogebäude in der Münchener Innenstadt. Aber die Atmosphäre ist anders als in klassischen Versicherungsbüros. Hier arbeiten 40 Menschen, die meisten Männer, aber nur vier tragen eine Krawatte.

Früher dauerten Projekte jahrelang, jetzt sollen sie nach höchstens 100 Tagen fertig sein

"Agile Softwareentwicklung" heißt das Zauberwort. Diese Schnelltechnik hat Pivotal ausgetüftelt. Die Experten arbeiten in kurzen Zeiträumen von zwei bis drei Wochen. Sie programmieren und gestalten eine Anwendung so weit, dass sie Testkunden gezeigt werden kann. "Wir testen das dann in 30 bis 50 Kundeninterviews nach Marktforschungsmethoden und erhalten damit ein frühzeitiges Kunden-Feedback", sagt Andreas Nolte, IT-Chef der Allianz Deutschland. Was ist nicht gut angekommen? Was haben Kunden nicht verstanden? Was muss verändert werden?

Dann kommt die nächste Phase, gefolgt von weiteren Kundentests. In 100 Tagen, so die Vorgabe, soll es ein fertiges Produkt geben. Das muss nicht die ultimative Fassung sein, aber es muss laufen.

Drei Monate lang hat sich das Team für die neue App in London getroffen. Jetzt sind die drei Pivotal-Experten für einige Wochen in München. Teamleiter Robert Atkins, ein 40-jähriger Australier, schwärmt von den Biergärten, als er kurz von seinem Terminal aufblickt. Er zieht demnächst von London nach Berlin um. "Dann hat der Brexit für mich sogar eine positive Auswirkung", lacht er.

Für die behäbigen deutschen Versicherer ist die agile Arbeitsweise eine Revolution. Statt zäher, Jahre dauernder Projekte, bei der Versicherungsexperten und IT-Leute nebeneinanderher werkeln, versuchen acht bis zwölf Spezialisten, die Probleme gemeinsam und schnell zu lösen. "Wir arbeiten hier mit sechs Teams, zusammen 70 Leute", sagt Nolte. Dazu kommen noch Teams in Stuttgart und London, insgesamt sind es 13. "Die Idee ist, dass unsere Mannschaft die agile Technik lernt und dann damit in das Unternehmen hineingeht."

Aber die meisten großen Konzerne scheitern, wenn sie versuchen, Start-ups zu imitieren. Deutschlandchef Manfred Knof glaubt dennoch an den Erfolg. "Vor allem deshalb, weil wir wirklich eine klare Strategie haben." Die Kundenorientierung müsse ganz vorne stehen, sagt er.

Knof weiß, dass die Allianz sich beeilen muss. "Wir wissen noch nicht, wann die Einschläge in unser traditionelles Geschäftsmodell kommen, wie sie aussehen und wie groß sie sind", sagt er. Aber er und seine Kollegen sind sich sicher, dass sie kommen werden.

Die Allianz imitiert die Arbeitsweise von Start-ups, weil die Start-ups sie überrascht haben. Plötzlich sind sie da, Clark, Knip, Getsafe und wie sie alle heißen. Sie versprechen ihren Kunden, sich digital um alle Versicherungsdinge zu kümmern - per App und elektronischem Versicherungsordner. Die meisten Start-ups sind eigentlich Versicherungsmakler und auch nicht besonders groß. Dennoch haben sie der traditionellen Versicherungswirtschaft einen Schrecken eingejagt. Denn zum ersten Mal seit Jahrzehnten wird die Branche von außen angegriffen. Und die Angreifer machen den traditionellen Versicherern den wichtigsten Teil ihres Geschäftsmodells streitig, den Kontakt zum Kunden. Dazu kommen Online-Vergleichsportale wie Check 24, die ebenfalls die Kundenkontakte auf Kosten der Versicherer ausbauen. Und schließlich sind da die Internet-Giganten Google, Facebook oder Amazon. "Es gibt eine reale Bedrohung von Unternehmen, die außerhalb unseres traditionellen Versicherungsgeschäfts stehen", weiß Knof. Er sieht die Bedrohung an zwei Punkten: an der Schnittstelle zum Kunden und bei den Daten, also der Nutzung aller Kenntnisse über den Kunden. In diesem Bereich haben Google und Amazon deutliche Vorteile.

Der Allianz Deutschland steckt in den Knochen, dass sie die erste große digitale Schlacht krachend verloren hat. 2001 kam Rivale HUK-Coburg mit dem Online-Versicherer HUK 24 auf den Markt. Die Allianz konnte sich jahrelang nicht entscheiden, ob es Internet-Abschlüsse geben sollte; die Vertreter waren dagegen. Schließlich ging der Konzern 2005 halbherzig an den Start. Die Folge: Im wichtigen Geschäft mit privaten Kfz-Haftpflichtversicherungen zog die HUK-Coburg an der Allianz vorbei.

Die Allianz Deutschland will mit Macht verhindern, dass ihr so etwas noch einmal passiert. Deshalb plant Knof, zusätzlich zu Initiativen der Konzern-Obergesellschaft Allianz SE, mehrere Hundert Millionen Euro ein. "Das Versicherungsprodukt der Zukunft muss einfach sein, auf dem Smartphone funktionieren und den Kunden zufriedenstellen, also schnell, fehlerfrei und verlässlich sein." Vertreter werde es trotzdem geben, und als Kostensenkungsprogramm inklusive Abbau von Arbeitsplätzen will Knof die Digitalisierung auch nicht verstanden wissen: "Eine solche Transformation ist nicht möglich, wenn das Thema Kosten im Vordergrund steht."

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