Virtual Reality:Wie Virtual Reality unser Leben verändern könnte

Gamescom 2015

Ein Besucher mit einer 3-D-Brille auf der diesjährigen Gamescom-Messe in Köln.

(Foto: Getty Images)

Die virtuelle Realität bringt Menschen an alle erdenklichen Orte, vom Mars bis in eine Körperzelle. Die Technik schließt die letzte Lücke der vernetzten Welt und könnte den Alltag völlig verändern - im Guten wie im Schlechten.

Von Johannes Kuhn

Trägt die Zukunft Taucherbrille? 2016 wird das Jahr, in dem Millionen von Menschen erstmals mit Hilfe monströs anmutender Digitalbrillen in die virtuelle Realität (VR) eintauchen werden. Und die Technologie-Branche ist überzeugt, dass die Geräte trotz ihrer gewöhnungsbedürftigen Ästhetik endlich salonfähig werden.

Noch befindet sich die Technik in ihrer Frühphase. Wer einen Helm aufsetzt oder sein Smartphone in eine Brillen-Halterung steckt, kommt sich noch nicht vor wie in der simulierten Wirklichkeit, wie wir sie aus Science-Fiction-Szenarien wie dem Holodeck von "Star Trek" kennen. Und doch ist der Wow-Effekt schon da, wenn der Träger plötzlich am Strand sitzt oder schwerelos durch die Tiefen eines virtuellen Ozeans zu schweben scheint und animierte Fische über, unter, hinter und neben sich beobachten kann.

Meetings könnten überflüssig werden

Das alles ist bei Weitem nicht perfekt, doch das Versprechen einer bislang nicht gekannten Nähe und Unmittelbarkeit unterscheidet VR von bekannten Medien wie Fernseher und Smartphone - und beflügelt die Fantasie. "Tele-Präsenz wird eine völlig neue Bedeutung erhalten", schwärmt Hao Li von der University of California. Treffen im virtuellen Raum versetzen Video-Chats in die dritte Dimension und schließen damit die letzte Lücke, die in der vernetzten Welt noch zwischen Menschen besteht.

Dass sich Facebook das VR-Start-up Oculus im Frühjahr 2014 für zwei Milliarden US-Dollar sicherte, ist eine Wette auf diese Zukunft, die auch das Geschäftsleben ändern könnte: Lange und anstrengende Reisen zu Meetings könnten theoretisch überflüssig werden. Selbst der Besuch von Bildungseinrichtungen wäre nicht mehr von der physischen Entfernung abhängig. Und Echtzeit-Videotechnologien wie Periscope, die gerade erst Fuß fassen, können bei sinkenden Hardware-Preisen Live-Anwesenheit an jedem Punkt der Erde ermöglichen, an dem die Internet-Bandbreite ausreicht.

Firmen wettstreiten um die neue Kundengruppe

Diese neue Technologie ist die noch unbesiedelte Welt, um die gerade eine Reihe von Hightech-Giganten kämpft: Sie wollen die Plattform für die künstliche Realität werden und haben deshalb für die kommenden Monate Hardware angekündigt: Nach Samsungs Smartphone-Halterung Gear VR wird die Facebook-Tochter Oculus im Frühjahr ein vollwertiges Headset ("Rift") auf den Markt bringen, das allerdings einen leistungsstarken PC benötigt. Gleiches gilt für das Konkurrenzprodukt Vive, an dem das Spielestudio Valve gemeinsam mit dem angeschlagenen Hardware-Hersteller HTC bastelt. Sony erweitert seine Playstation-Konsole ebenfalls um einen VR-Helm, dazu kommen die bereits erhältliche Billig-Lösung Google Cardboard, das erste Mini-Einblicke in die Realität der Zukunft erlaubt, und das offene VR-Betriebssystem OSVR, das vom Gaming-Hardware-Produzenten Razer unterstützt wird.

Grobschlächtige Avatare

Als in den Neunzigern Virtual Reality das erste Mal aufkam, floppte die Technologie wegen teurer Geräte und schlechter Grafik. Das ist, exponentiell wachsender Rechenkraft sei Dank, dieses Mal nicht zu erwarten. Doch selbst Facebook-Chef Mark Zuckerberg mahnt zur Geduld: "Das Feld wird langsam wachsen, genau wie Computer und Mobiltelefone, als sie zuerst auf den Markt kamen", sagte er zu Analysten. Vor allem der Preis der stationären Digitalbrillen, der sich im Bereich von Premium-Smartphones einpendeln dürfte, wird Konsumenten trotz des "Wow-Effekts" zögern lassen.

In diesem Jahr 2016 dürften deshalb wohl erst wenige Millionen Endgeräte verkauft werden. Die Analysten von Piper Jaffray rechnen sogar damit, dass es mindestens eine Dekade dauern wird, bis VR wirklich die Massen erreicht. Die Prognosen für den Marktumsatz im Jahr 2020 sind entsprechend unterschiedlich und liegen zwischen 15 und 150 Milliarden US-Dollar.

Solche Unwägbarkeiten halten Jung-Firmen aber nicht davon ab, vor allem im Unterhaltungs- und Spiele-Bereich die ersten Segmente zu erobern. So setzt das finanziell gut ausgestattete kalifornische Start-up Next VR auf Test-Übertragungen von Konzerten oder Sportereignissen, dazu gibt es schon Erfahrungen. Der Zuschauer kann dort in der ersten Reihe oder sogar auf der Bühne sitzen. Andere Apps sortieren den Helm-Träger an Urlaubsorte oder zu Sehenswürdigkeiten, zeigen Fotos im 360-Grad-Modus.

Virtual Reality - zurzeit noch eine eher umständliche Angelegenheit

Spiele-Studios setzen auf klassische Shooter oder Puzzle-Spiele, in denen sich Objekte in der dritten Dimension bewegen. Oculus selbst hat mit Oculus Social Alpha einen ersten 3-D-Chatraum eröffnet, in dem sich Menschen miteinander unterhalten können - allerdings nicht als sie selbst, sondern als Animations-Avatar.

Avatare erinnern an die grobschlächtige Kunstwelt der Chat-Welt Second Life. Und sie zeigen, wie viel Arbeit noch auf die Macher wartet: Für digitale Echtzeit-Projektionen von Menschen, die unter VR-Helmen stecken, sind Fortschritte in der Sensor-Erkennung von Gesichtsbewegungen notwendig. Die Auflösung der Grafik ist noch weit davon entfernt, dem Auge eine komplette Wirklichkeit vorspielen zu können. Bewegungen wiederum sind nur auf den Kopf beschränkt, was das Eintauchen in die VR deutlich beeinträchtigt. Hände können in der künstlichen Realität nur mit Hilfsmitteln wie Controllern oder Handschuhen erwachsen; Sensoranzüge simulieren zwar ein kompletteres Körpergefühl, können aber keine Gehbewegungen abbilden - niemand möchte, dass ein VR-Nutzer gegen die Zimmerwand läuft.

Systeme wie der vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik entwickelte CarRobot Simulator, der eine Plattform mechanisch bewegt, um das Fahrgefühl zu simulieren, sind für Heimanwendungen zu komplex. Selbst das Eyetracking, also die Anpassung der Welt an die Augenbewegungen eines Heimträgers, steckt noch in der Frühphase.

Besonders Filmemacher interessieren sich für die neue Technologie

Nicht umsonst gibt es deshalb zunächst einfache, passive Unterhaltungsformen wie VR-Filme. 2016 werden zahlreiche neue Kameras auf dem Markt erwartet - als Pionier-Anwendungen. "Es ist unvermeidlich, dass einige der Geräte viel versprechen und wenig halten werden", warnen Analysten wie Ben Schachter von Macquarie Capital. Dennoch glaubt er daran, dass in den nächsten zehn Jahren neue Anwendungen den Unterhaltungs-, Kommunikations- und sogar den Unternehmensbereich verändern können.

Die Perspektive, sich an alle Orte - vom Mars bis zur kleinsten Körperzelle - versetzen lassen zu können, wird auf unterschiedlichste Weise genutzt: Google und einige Start-ups bieten digitale Exkursionen für Schulklassen an, um die Technologie im Bildungssystem zu etablieren. Vor allem aber sind es Filmemacher, die mit dem Gefühl experimentieren, sich in einer Szene zu befinden, statt ihr nur zuzusehen. Der Film "Clouds over Sidra", der eine Zwölfjährige in einem Flüchtlingslager in Jordanien begleitet, gilt als Prototyp einer neuen Form von Empathie-Vermittlung. Nicht überraschend arbeiten auch Horror- und Porno-Filmer an der Adaption ihres Genres für die VR. Allen gemein ist, dass sie es mit einem "Zuschauer" zu tun haben, der seine Aufmerksamkeit auf jeden Punkt im Raum richten kann, statt von der Kamera geführt zu werden.

Ethische Fragen bei der Virtual Reality

Immersion heißt der Fachbegriff, wenn sich in der VR die Realitätswahrnehmung immer stärker in die virtuelle Umgebung verlagert und der Mensch sein physisches Umfeld vergisst. Doch dieser Effekt macht auch verletzlich: "Wir können nicht einfach umschalten, wenn wir eine schlechte VR-Erfahrung machen", beschreibt es VR-Filmerin Jessica Brillhart. "Nicht einmal das Abnehmen des Headsets hilft. Etwas, das uns sehr nahe ist, wird kompromittiert." Bereits jetzt werden ethische Fragen in der Szene lebhaft diskutiert.

Und die Wissenschaft lotet gerade die Effekte der supernahen Empathie-Maschine aus. Forscher der Universität Barcelona ließen Versuchspersonen im virtuellen Raum in die Rolle eines Psychotherapeuten schlüpfen. Ihnen gegenüber auf der Couch: ein Avatar ihrer Selbst. Der Ratschlag, den sie ihrem virtuellen Selbst als Amateur-Freud gaben, wurde ihnen am Ende wieder vorgespielt, um einen Erkenntnisprozess in Gang zu setzen. Erste Therapieversuche von Phobien im virtuellen, sicheren Raum verliefen vielversprechend. Andere Projekte versetzen Menschen in ein anderes Geschlecht, eine andere Hautfarbe oder ein anderes Lebensumfeld wie den Körper eines Obdachlosen, um Verständnis für das "Andere" auf dieser Welt zu wecken. Doch was passiert, wenn die Technologie für die Enthumanisierung von Menschen in der Realität genutzt wird? Das US-Militär nutzt bereits seit Jahren eigene VR-Systeme, um Soldaten auf Kampfeinsätze vorzubereiten.

Der VR könnten ähnliche Debatten wie beim Internet bevorstehen

Wie jede neue Technologie stellt auch die virtuelle Realität Fragen an die Gesellschaft: Wie wird sich unser Selbstbild verändern und wie verändern die Dinge, die dort passieren, unsere Normen in der physischen Realität? Wie beim Internet selbst könnte eine Debatte über Zugangsgerechtigkeit - und damit auch über die Plattformen, auf denen VR stattfindet - beginnen. Vielleicht erleben wir aber auch nur einen Konsum von Gefühlen und Reizen, wie er sich bereits in der mobilen Welt andeutet. Noch ist nicht einmal auf konzeptioneller Ebene entschieden, ob VR ein Tor zur Realität oder zu einer Kunstwelt wird, Kommunikation oder Isolation fördert. Und auch die Frage, wie weitgehend Menschen überwacht werden können, erhält mit VR neue Brisanz.

Die Antworten sind auch im Digitalen nicht binär - womöglich verschmilzt die virtuelle Realität mit der "Augmented Reality", der Einblendung von digitalen Elementen in unser Sichtfeld in der physischen Welt. Mit dem von Google und Alibaba unterstützten Start-up Magic Leap oder Microsoft und seinem HoloLens-Projekt stehen auch hier die ersten Akteure bereit. Erste Programme virtualisieren bereits das komplette digitale Büroinventar und lassen Monitore auf Knopfdruck erscheinen. In China ist die Kinder-App "Der Affenkönig" ein Bestseller, der virtuelle Figuren über das Smartphone in die Realität einblendet.

Und dann ist da noch die Sache mit der Seekrankheit: Weiterhin wird vielen Menschen schlecht, weil in der virtuellen Realität die visuelle Wahrnehmung nicht mit dem Gleichgewichtssinn synchron ist. Die Zukunftsbranche VR ist damit wohl die erste, deren Erfolg direkt vom Brechfaktor abhängt.

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