Vergötterung des BIP:Wider den Hurrapatriotismus der Wachstumsfetischisten

Wie ein Kaninchen starren wir auf die Schlange namens "Bruttoinlandsprodukt". Doch der Fetisch "Wachstum" ist nicht zu halten, sagen Experten: Wie gut es einem Land wirtschaftlich gehe, muss anders bemessen werden. Aber wie?

Jens-Jürgen Korff

Bruttoinlandsprodukt - dieses Wort klingt so, als würde der jährlich erzielte Fleischfasernzuwachs eines Hähnchenmastbetriebs gemessen. Und in der Tat funktioniert es auch ganz ähnlich. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie haben ein Atomkraftwerk gebaut. Das hat natürlich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gesteigert.

Bayerns Export legt kräftig zu

Autoproduktion bei Audi in Ingolstadt: Ökonomen und Umweltschützer sind der Meinung, dass nicht nur produzierte Waren und Dienstleistungen gezählt werden sollten, sondern ein Wohlfahrts-Index das bloße Wirtschaftswachstum ergänzen sollte.

(Foto: dpa)

Den dort produzierten Strom verkaufen Sie. Das steigert das BIP zum zweiten Mal, jedes Jahr. Wenn nur nicht dieser blöde Atommüll übrig bliebe. Doch BIP-technisch gesehen ist er kein Problem: Sie stecken den Atommüll in irgendein vorübergehend sicheres Bergwerk, und schon steigt das BIP zum dritten Mal. Wenn Sie das leckende Lager später mit großem Aufwand sanieren müssen, wenn gar Leute verstrahlt wurden und geheilt werden müssen - prima! Das BIP steigt zum vierten und fünften Mal. Und jedesmal finden sich Schreiber, Weise und Macher, die behaupten, alle diese Vorgänge hätten unseren Wohlstand gemehrt.

Gibt es sinnvolle Alternativen zu dieser Messmethode des Wirtschaftswachstums? Dieser Frage gehen der Volkswirtschaftler Hans Diefenbacher und der Umweltexperte Roland Zieschank in ihrem 109 Seiten starken Büchlein nach. Sie fassen die erstaunlich vielfältige internationale Diskussion gut verständlich zusammen und plädieren dafür, das BIP um einen Nationalen Wohlfahrts-Index zu ergänzen. Sie hegen die Hoffnung, eine zweite Zahl könnte uns, das Kaninchen, aus unserem starren Blick auf die Schlange BIP lösen und uns mehr Entscheidungsspielraum bei der Gestaltung der Wirtschaft verschaffen.

BIP war nicht als Wohlstandsmaß gedacht

Das BIP war ursprünglich gar nicht als Wohlstandsmaß gedacht, sondern einfach nur als Maß für alle auf dem Markt verkauften Waren und Dienstleistungen. Wenn man es trotzdem als Wohlstandsmaß verwendet, verzerrt das, so die Autoren, die Wirklichkeit. Auch deshalb vertrauen viele Menschen dem Hurrapatriotismus der Wachstumsfetischisten nicht mehr: Die Folgen des Wirtschaftens für Natur, Umwelt und Ressourcenbestand bleiben meist außen vor. Aufwände, die nur den Zweck haben, Schäden zu reparieren oder abzuwenden, steigern das BIP.

Es nimmt keine Rücksicht auf die Wohlfahrt der Bevölkerung und die Verteilung des Wohlstands, steigt also auch dann, wenn bei der Masse der Bevölkerung kaum etwas ankommt. Andererseits steigern Leistungen, die die Menschen in Selbsthilfe, Nachbarschaftshilfe, Hausarbeit oder Ehrenamt erbringen, den Wohlstand einer Gesellschaft, aber im BIP kommen sie nicht vor.

Im Krisenjahr 2009 haben die Autoren im Auftrag des Umweltbundesamtes einen Nationalen Wohlfahrts-Index (NWI) entwickelt. Er ähnelt dem Konzept, das eine von den Nobelpreisträgern Joseph Stiglitz und Amartya Sen geführte Kommission 2008 in Frankreich vorlegte. Beide Konzepte wollen zunächst den Verbrauch der privaten Haushalte messen. Viele Umsätze, die Unternehmen untereinander machen, bleiben also außen vor. Dafür gehen unbezahlte Leistungen durch Hausarbeit, Ehrenamt und dergleichen in den Index ein (die Autoren erklären leider nicht, wie diese erfasst werden sollen).

Größere Ungleichheit der Einkommen, der Verbrauch unwiederbringlicher Ressourcen, Unfallkosten und Ähnliches schlagen negativ zu Buche. Positiv wirken staatliche Ausgaben für Bildung und Gesundheit.

Stiglitz und Sen wollen auch Umfrageergebnisse zur subjektiv empfundenen Lebensqualität in den Index einbeziehen, die Deutschen dagegen nur in Geld bewertbare Größen. Unklar bleibt, ob Wohlstand (wealth) und Wohlfahrt (welfare) wirklich fast dasselbe sind, wovon die Autoren auszugehen scheinen. Diefenbach und Zieschank räumen ein, dass es zu einigen Faktoren des NWI bislang kaum gesicherte Daten gibt - schon in Deutschland nicht, geschweige denn in anderen Ländern. Gleichwohl haben sie ihn für die Jahre ab 2000 schon einmal berechnet und festgestellt, dass der Index in dieser Zeit leicht rückläufig gewesen sei. Immerhin: Das scheint sich mit der gefühlten Einschätzung breiter Bevölkerungsteile zu decken.

Die Debatte hängt mit der strittigen Frage zusammen, ob Wirtschaft in hoch entwickelten Ländern überhaupt noch weiterwachsen kann, ob sie es sollte und falls ja, wie. Der Charme des NWI und ähnlicher krisengeborener Indizes scheint darin zu liegen, dem Schrumpfen des BIP in der Krise - und den generell sinkenden Wachstumsraten - positive Seiten abzugewinnen: Die Wohlfahrt kann laut NWI nämlich auch dann weiterwachsen, wenn die konventionell gemessene Wirtschaftsleistung schrumpft. Etwa indem man Einkommen zugunsten der Ärmeren umverteilt, Kohle, Öl und Gas einspart, Flächen entsiegelt oder ehrenamtliche Netzwerke ausbaut.

Ob allerdings eine simple Zahl, dazu noch eine derart schwammige, der Gesellschaft wirklich neue Einsichten in Struktur und Perspektiven der Wirtschaft verschaffen wird? Der Zahlenskeptiker zweifelt.

HANS DIEFENBACHER, ROLAND ZIESCHANK: Woran sich Wohlstand wirklich messen lässt. Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt. oekom, München 2011. 109 Seiten, 12,95 Euro.

Jens-Jürgen Korff ist Historiker, Werbetexter, Sachbuch- und Lexikonautor.

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