Verdrängte Wahrheiten:Therapie für die Firma

In vielen Unternehmen gibt es Spannungen in der Chefetage und Konflikte unter den Mitarbeitern - einige Betriebe holen sich deshalb ungewöhnliche Hilfe von außen.

Dagmar Deckstein

Wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde man es kaum glauben wollen. Aber für Willi S., der eine kleine Privatbrauerei in vierter Generation führt, ist das Bild ganz und gar stimmig. So stimmig, dass er, der ja nur am Rand des Seminarraums sitzt und die Gruppe von fünf Menschen in der Mitte betrachtet, in Tränen ausbricht und nach der Kleenex-Packung greift.

Dresdner Bank, ddp

Dresdner Bank: Jubiläum falsch gewählt.

(Foto: Foto: ddp)

Es liegt fast etwas Sakrales über der Szene, zu der sich diese Menschen zur Beantwortung von Willis Frage auf dem beigefarbenen Teppich formiert haben. Diese Frage lautete: Gibt es Altlasten, die den guten Gang der Geschäfte in der Brauerei blockieren?

Willi S. hat eine Methode gewählt, die noch nicht sehr verbreitet ist: die Organisationsaufstellung. In ihrem Seminarraum bei Gstadt am Chiemsee hat Aufstellungsleiterin Kristine Alex zwölf Teilnehmer eingeladen, die zwar zum Teil schon Erfahrungen mit Aufstellungen gemacht haben, aber weder den Brauereibesitzer, geschweige denn seine familiären oder geschäftlichen Hintergründe kennen.

Die Fragestellung, die Willi S. bewegt, hat sie mit ihm im Vorgespräch geklärt. Der Brauer wählt zunächst eine der Personen als seinen Stellvertreter aus, eine für die Firma, eine für die "Altlast", berührt sie jeweils an der Schulter, und die Seminarleiterin bittet die Stellvertreter, ihren Eingebungen zu folgen und sich einen Platz im Raum auszuwählen.

Nach einigen Minuten fragt sie nach deren Wahrnehmungen, Veränderungen im Körpergefühl oder Gefühlsregungen. Der Mann, der für Willi S. steht, ist "wie festgewurzelt" und kann den Blick nicht aus dem Fenster hinaus wenden.

Willi S. staunt: "Ich wollte Zeit meines Lebens weg aus meinem Dorf, aber etwas hat mich immer festgehalten."

Nachdem eine knappe Stunde vergangen ist, nachdem die Repräsentanten häufiger die Plätze gewechselt und nachdem Kristine Alex noch eine beobachtende Teilnehmerin gebeten hat, sich als Reppräsentantin für die Ahnfrauen der Brauer-Dynastie ins Bild zu stellen, erhellt das Schlussbild, welche Last den Familienbetrieb in den vergangenen 80 Jahren seit der Gründung beschwerte und so manche geschäftliche Durststrecke oder Zwist im Familienclan erklären hilft.

Nie gewürdigt

"In der Brauerei hatten eigentlich immer die Frauen das Sagen, haben die Rezepte fürs Bier ausgetüftelt - aber sie wurden nie dafür gewürdigt, sondern klein gemacht und bei Erbangelegenheiten auch noch über den Tisch gezogen", kommentiert Willi S. die Szene, die das System seines Familienbetriebs repräsentiert.

Er putzt sich wieder die Nase und setzt noch eins drauf: "Die Männer haben ihre Frauen klein gemacht, weil sie ihre Größe gefürchtet haben."

Das wäre ja nun auch keine durchschlagend neue historische Erkenntnis. Wohl aber vielleicht die, dass unaufgearbeitetes Unrecht, Verdrängtes, Nichtwürdigung der Verdienste vorangegangener Generationen Unternehmen manchmal mehr am Erfolg hindern können als bürokratische Hemmnisse, Arbeitsmarktverfassung oder Steuergesetze.

Das meint jedenfalls Kristine Alex, 43, die sich nach ihrer Ausbildung als systemische Beraterin seit 1994 auf den Einsatz systemischer Aufstellungen spezialisiert hat. "Eine erstaunliche Erfahrung ist es für mich vor allem in den letzten Jahren gewesen, dass viele Unternehmen sozusagen nicht in ihre Kraft kommen können, weil sie Unaufgeräumtes aus ihrer Vergangenheit geradezu lähmt", sagt sie.

Aber wer denkt schon an so etwas, wenn Kunden abspringen, die Mitarbeiterfluktuation zunimmt oder die Spannungen und Konflikte in der Chefetage das Maß des Erträglichen übersteigen? Kristine Alex, zu deren Kundschaft Führungskräfte vom ADAC über Bosch-Siemens und DaimlerChrysler bis hin zum Zentralen Fortbildungsinstitut von ARD und ZDF gehören, fällt auf, "dass jetzt die junge, nicht mehr unmittelbar in Vergangenes verstrickte Generation von Führungskräften den Mut aufbringt, die dunklen Seiten dieser Vergangenheit anzuschauen".

So wie die Dresdner Bank - vor allem auf öffentlichen Druck hin - 1997 begann, ihre Nazi-Vergangenheit wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen und Anfang dieses Jahres ein 2400 Seiten starkes Werk "Die Dresdner Bank im Dritten Reich" vorlegte, so machte sich auch Hubert M. an die Arbeit.

Nichts wurde besser

Als Vorstand einer Privatbank ergriff ihn Anfang des Jahrzehnts nicht nur Unbehagen angesichts der ausbrechenden Bankenkrise, sondern auch deswegen: "Als es schwieriger wurde, verdoppelten wir die Schlagzahl - aber nichts wurde besser."

Von den ständigen Reibereien und Spannungen im Vorstand ganz zu schweigen. Er, der Neue im Vorstand, habe auf höhere Produktivität gepocht, die Vorstandskollegen aber "auf die Übererfüllung des unternehmenskulturellen Gebots der Freundlichkeit". Für Hubert M. verdichtetete sich der Verdacht: "Etwas bremst uns."

Auch er wollte der Frage, was da bremst, wie der Brauer Willi S. mit einer Organisationsaufstellung bei Kristine Alex auf die Spur kommen.

Als Altlast in der Bankgeschichte erschien ein blinder Fleck. "Nach der Aufstellung fiel es mir wie Schuppen von den Augen, was da über Jahrzehnte hin zwar da war, aber von den früheren Vorständen geflissentlich nicht angeschaut wurde", fasst Hubert M. sein Aufklärungsbild zusammen.

Das bevorstehende 75-jährige Jubiläum der Bank war falsch gewählt: Die Vorläuferorganisation hatte schon seit 1906 bestanden, aber sich im Laufe der Zeit durch Bilanzfälschungen, Betrug und Konkurse nicht gerade mit jubelwürdigem Ruhm bekleckert.

Seither lässt der Banker die Vorgeschichte der heutigen Bank akribisch in Archiven recherchieren. "Inzwischen sind bei uns deutliche Veränderungen spürbar, der Unruheherd ist verschwunden, Entscheidungen fallen bei uns jetzt klarer und konsequenter."

Was ist passiert? Ein Wunder? "Nein", sagt der Banker, "aber eine Aufstellung vermittelt in kürzester Zeit maximalen Erkenntnisgewinn, wie er mit dem Verstand nie zu gewinnen wäre."

Die Antwort auf die Frage, wie genau und warum so eine Aufstellung funktioniert, entzieht sich vorläufig dem rationalen Erklärungsinstrumentarium der Wissenschaft, die zählen, wiegen, messen muss.

Systeme wie Unternehmen, Institutionen, Organisationen, Familien bestehen indessen aus Menschen, zwischen denen es eine unausgesprochene, unsichtbare Beziehungsebene gibt, sagt Kristine Alex. Diese Beziehungsebene könne, so erklärt die Beraterin, "als das gemeinsame Feld des Unbewussten des Systems bezeichnet werden".

Und nicht von ungefähr borde die zeitgenössische Managementliteratur über von Begriffen wie "Vernetzung", "lernende Organisation" und "systemisches Denken", von Begriffen also, die Organisationszustände jenseits des alten Apparatedenkens andeuten. Auch sie weiß, dass ihre Arbeit nach herkömmlichem Wissenschaftsverständnis nicht erklärbar ist, dass sie lediglich auf der Wahrnehmung von Phänomenen beruht.

Sehr erstaunlich sei es tatsächlich immer wieder zu beobachten, wie die Repräsentanten, die weder die Fragestellung des Klienten kennen noch die Organisationsmitglieder, für die sie stehen, in ihren Wahrnehmungen und Äußerungen exakt jene Problematik inszenieren, um die es im Einzelfall geht.

Die Grundlagen der systemischen Aufstellung schuf maßgeblich die amerikanische Familientherapeutin Virginia Satir (1906 - 1988). Als geistiger Vater der Familienaufstellung gilt seit 20 Jahren der so bekannte wie umstrittene Therapeut Bert Hellinger.

Erst Mitte der neunziger Jahre wurde diese Methode auch für andere Systeme wie Unternehmen weiterentwickelt. Insbesondere auf Hellinger haben sich die Kritiker dieser Methode kräftig eingeschossen, vor allem der Psychologe Colin Goldner vom "Forum kritische Psychologie". Für ihn ist Hellingers Verfahren "reiner Humbug. Es ist eine esoterisch durchwaberte Laienspielinszenierung, nicht mehr."

Auffällig ist allerdings, wie heftig polarisiert sich Befürworter und Gegner der Aufstellung gegenüberstehen. Das ist auch der Grund dafür, warum der Brauer Willi S. und der Banker Hubert M. ihre Identität nicht preisgeben möchten, obwohl sie die Methode rückhaltlos befürworten.

Die wenigsten, berichtet auch Kristine Alex aus ihrer Praxis, wollen in der Öffentlichkeit zugeben, dass sie sich mit Hilfe von Aufstellungen Klarheit über berufliche oder private Themen jeglicher Art verschaffen. Es sei ja auch unglaublich: "Wieso kann sich eine fremde Person so authentisch in eine Großmutter oder in den Konzernchef einspüren, und wieso werden sogar gleiche Gesten und Wortlaute von ihr verwendet? Wieso verhalten sich zum Beispiel Kollegen am Tag nach der Aufstellung plötzlich anders?"

Sich solchen Erfahrungen auszusetzen, sagt Bankvorstand Hubert M., bedürfe schon einigen Mutes: "Das Problem in unseren Managementkreisen ist ja die riesengroße Angst vor Kontrollverlust. Und verhindern können Sie es nun einmal nicht, dass sich auch das Unangenehme, das geflissentlich Verdrängte in einer Aufstellung zeigt."

Der Brauer Willi S. aus dem tiefsten Oberbayern blickt jetzt fröhlicher in die Zukunft, nachdem er das über acht Jahrzehnte im Familienunternehmen Verdrängte in der Aufstellung angeschaut hat. "Die Brauerei lief zwar stets gut, aber meine Familie hat immer sehr, sehr hart gekämpft und viele Entbehrungen erlitten. Es gab Unglücksfälle und Streitereien, die unnötig waren wie ein Kropf."

Jetzt, da er die Ahnfrauen gesehen hat, ist ihm "regelrecht ein Stein vom Herzen gefallen" . Ihm, der jetzt seit 15 Jahren seinem Unbehagen über die Lähmungserscheinungen in der Firma mit 20 Mitarbeitern auf den Grund zu gehen versuche. Auch wenn das, was er erlebt hat, mit Logik nicht zu erklären sei, ist ihm unmittelbar klar geworden, dass das betriebserhaltende weibliche Element bisher nie gewürdigt worden sei.

"Und das gilt im Übrigen nicht nur für unsere Firma, sondern für die ganze deutsche Wirtschaft."

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