Verdi:Im Minus

Verdi: Nächstes Jahr soll der Nachfolger des Bundesvorsitzenden Frank Bsirske gewählt werden.

Nächstes Jahr soll der Nachfolger des Bundesvorsitzenden Frank Bsirske gewählt werden.

(Foto: dpa)

Die Gewerkschaft Verdi hat auch im vergangenen Jahr viele Tausend Mitglieder verloren. Nun will sie sich neu erfinden. Zumindest, was ihre Strukturen angeht.

Von Henrike Roßbach, Berlin

Frank Bsirske, Vorsitzender der zweitgrößten deutschen Gewerkschaft Verdi, ist inzwischen länger im Amt als Bundeskanzlerin Angela Merkel - was durchaus etwas heißen will. Anders als die CDU-Chefin aber hat der Fünfundsechzigjährige sein Karriereende schon im Blick. Wenn nächstes Jahr der Verdi-Kongress seine Spitze neu wählt, wird Bsirske nicht noch einmal antreten. Und noch etwas unterscheidet ihn von der Kanzlerin, die gerade ihre vierte Koalition schmiedet: Seine Organisation hatte überhaupt noch nie einen anderen Chef als ihn, denn gegründet wurde Verdi erst 2001, aus fünf Einzelgewerkschaften.

Dass seine Amtszeit ein einziges Erfolgserlebnis gewesen wäre, würde nicht einmal der selbstbewusste Bsirske behaupten. Der tiefste Kratzer in seiner Bilanz ist wohl die Tatsache, dass Verdi seit Gründung mehr als 800 000 Mitglieder verloren hat. Auch im vergangenen Jahr sei die Zahl der Mitglieder um gut ein Prozent zurückgegangen, sagte Bsirske. 112 000 Eintritten standen 122 000 Austritte gegenüber; dazu kommen 15 000 Sterbefälle. Nun hat die Gewerkschaft auch noch die magische Schwelle von zwei Millionen Mitgliedern unterschritten. Das ist offenbar derart schmerzlich für Bsirske, dass er die Gesamtzahl gar nicht erst in den Mund nehmen, sondern lieber davon sprechen wollte, sie seien 13 000 Mitglieder von zwei Millionen entfernt.

Nur das Gesundheitswesen bleibt für sich, alle anderen sollen sich zusammentun

Was Verdi widerfährt, ist auch hausgemacht. Die IG Metall etwa war deutlich erfolgreicher, was die Neugewinnung von Mitgliedern angeht. Und hatte oft auch die spektakuläreren Tarifabschlüsse zu bieten. Zur Wahrheit aber gehört ebenfalls, dass Verdi auf schwierigem Terrain unterwegs ist. Zum Einzugsbereich der Gewerkschaft gehören beispielsweise Unternehmen wie Amazon oder Zalando, die keinerlei Tariftradition haben und den rasanten Wandel in Einzelhandel und Logistik illustrieren, zwei Kernbranchen von Verdi. "In Großkonzernen haben wir auch einen hohen Organisationsgrad", sagte Bsirske mit Blick auf die IG Metall. Bei der Postbank etwa seien drei von vier Mitarbeitern Gewerkschaftsmitglied. Anderswo aber gleicht die Arbeit von Verdi einem Häuserkampf, etwa in der boomenden Paketzustellerbranche, wo sich viele Subunternehmen tummeln.

Und so tauchen in der Jahresbilanz, die Bsirske am Donnerstagabend vortrug, Tariferfolge auf, die eher unter der Wahrnehmungsschwelle der meisten Bürger liegen dürften, für die Gewerkschaft aber zentral sind. Mehr Geld fürs Flughafenpersonal, neue Streiktechniken bei Amazon, Rückkehr zum Flächentarifvertrag bei Karstadt, eine tarifliche Regelung zum mobilen Arbeiten bei der Telekom - das ist das tarifpolitische Schwarzbrot der modernen Dienstleistungswelt.

Nun aber stehen für Verdi zwei Großprojekte an. Das eine ist die Tarifrunde im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen; bislang schweben Verdi sechs Prozent mehr Geld vor, die konkrete Forderung kommt Anfang Februar. Das zweite ist ein Umbau der Gewerkschaft selbst. Oder wie Bsirske sagte: "Eine Neuorganisation, die es in dieser Radikalität in keiner anderen Gewerkschaft gegeben hat." Um in der Fläche schlagkräftiger zu sein und Mittel freizusetzen für die betriebliche Arbeit, sollen aus 13 Fachbereichen vier werden, jeder etwa 400 000 Mitglieder groß. Infolgedessen wird es auch weniger Vorstandsposten geben. Einzig das Gesundheitswesen bleibt für sich, alle anderen Branchen sollen sich zusammentun: Einzelhandel, Post und Logistik etwa, aber auch, etwas weniger einleuchtend, Finanzsektor, Medien, Wissenschaft, Telekommunikation, Ver- und Entsorgung. Sie wollten, sagte Bsirske, den Veränderungen der Arbeitswelt Rechnung tragen. Es sei "ein offener Prozess", bis Mitte 2019 solle die Entscheidung fallen, ob es wirklich so kommt. Danach soll es losgehen - unter Führung eines neues Chefs.

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