US-Firmen:In der Zwickmühle

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Komplizierte chirurgische Eingriffe gelingen besser, wenn der Operateur Routine hat. (Foto: Brendan Smialowski/AFP)

Abrechnungsbetrug, Dokumentenfälschung, Bilanzmanipulationen: Viele Unternehmen schädigen Staat und Aktionäre. Oft wissen die Aufsichtsbehörden Bescheid und schauen weg.

Von Claus Hulverscheidt, New York

Die Inspektoren kamen am frühen Morgen, sie trugen schwarze Poloshirts und beigefarbene Hosen und wurden rasch fündig. Gleich kistenweise stellten sie Akten sicher, die offenbarten, dass das Riverside General Hospital im Herzen der texanischen Metropole Houston jahrelang Dokumente gefälscht und die staatlichen Fürsorgedienste Medicaid und Medicare um mehr als 100 Millionen Dollar betrogen hatte. Umgehend ließ Marylin Tavenner, die damalige Chefin der Aufsichtsbehörde CMS, die Auszahlung von Steuergeldern an die Klinik stoppen, aber nur um ihren Beschluss kurz darauf zu revidieren: Obwohl sich der Skandal in den folgenden Monaten noch ausweitete, flossen die Mittel aus den öffentlichen Hilfstöpfen weiter.

Wie kann das sein? Warum knickten das Gesundheitsministerium und das ihm unterstellte CMS ein, statt rigoros durchzugreifen? Antworten auf diese Frage hat der Ökonom Jonas Heese gefunden, der an der Harvard Business School in Boston das Verhalten von Aufsichts- und Regulierungsbehörden erforscht und gleich zwei Studien dazu verfasst hat. Ergebnis: Ämter wie das CMS oder die mächtige Börsenaufsicht SEC gehen in vielen Fällen durchaus rigoros gegen Abrechnungs- oder Bilanzbetrug vor. Aber weil allzu drakonische Sanktionen häufig auch völlig Unbeteiligte treffen würden - Patienten etwa oder unbescholtene Mitarbeiter -, lassen sie ebenso oft Milde walten.

Weil Krankenhäuser einen Dienst an der Allgemeinheit leisten, drücken Behörden ein Auge zu

Tatsächlich stecken sowohl Firmen als auch deren Aufseher häufig in der Zwickmühle, und nirgendwo wird das so deutlich wie im amerikanischen Gesundheitswesen. Vor allem die Non-Profit-Kliniken des Landes, die 80 Prozent der Versorgung sicherstellen, sehen sich Tag für Tag mit dem Problem konfrontiert, dass einer der 29 Millionen Menschen um medizinische Hilfe bittet, die trotz großer Gesundheitsreform auch im Jahr 2016 noch ohne Krankenversicherung leben müssen. Auf den Kosten der Behandlung bleiben die Hospitäler dann sitzen, es sei denn, sie holen sie auf illegalem Wege wieder herein.

Ein beliebter Trick dabei ist das sogenannte "Upcoding". Dabei versieht das Krankenhaus eine erbrachte Leistung mit einem falschen Abrechnungscode, um etwa bei Medicare und Medicaid, den beiden staatlichen Hilfsprogrammen für ältere, behinderte und bedürftige Bürger, erhöhte Zuzahlungen eintreiben zu können. Ein Beispiel: Die Behandlung eines Patienten mit einer Atemweginfektion wird üblicherweise mit dem Code DRG 80 abgerechnet, die Klinik erhält 4377,50 Dollar. Kommt nun eine - erfundene - Komplikation hinzu, zum Beispiel Asthma oder Bluthochdruck, kann die Klinik über den Code DRG 79 plötzlich 8188,50 Dollar in Rechnung stellen, 3811 Dollar mehr. Auch in Deutschland kommt dieses DRG-System zum Einsatz.

Obwohl allein das Upcoding pro Jahr Schäden in beträchtlicher zweistelliger Milliardenhöhe verursacht, gehen die staatlichen Aufpasser oft nur halbherzig dagegen vor. "Wenn man es rein theoretisch betrachtet, wäre es natürlich wünschenswert, dass eine Regulierungsbehörde, die etwa Abrechnungsbetrug in Krankenhäusern verhindern soll, jeden Fall knallhart ahndet", sagt Heese im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. "In der Praxis kann es dabei aber zu Kollateralschäden kommen, etwa dann, wenn Unversicherte plötzlich nicht mehr behandelt würden. Die Umsetzung der reinen Lehre muss deshalb nicht in jedem Fall auch volkswirtschaftlich und sozial der beste Weg sein."

Anders ausgedrückt: Weil die Krankenhäuser einen Dienst an der Allgemeinheit leisten und eine Gesetzeslücke füllen, drücken die Aufsichtsbehörden im Gegenzug bei einem Gesetzesverstoß beide Augen zu. Gleiches gilt für Kliniken, die trotz dauernder Budgetkürzungen in den vergangenen Jahren weiter junge Menschen medizinisch ausbilden und sich die Kosten dafür auf illegalem Wege wieder hereinholen.

Oft spielt bei der Entscheidung der Behörden auch politischer Druck eine Rolle. Im Falle des Riverside General Hospitals etwa schaltete sich Sheila Jackson Lee ein, die örtliche Abgeordnete des US-Repräsentantenhauses, und forderte Tavenner auf, die Medicare-Sperre umgehend wieder aufzuheben. Mit dem Zahlungsstopp, so Jackson Lees Argument, habe die Regulierungsbehörde "die Gesundheit der allerschwächsten Patienten aufs Spiel gesetzt, für die der Zugang zu Medicare buchstäblich lebensrettend sein kann".

In anderen Fällen, so Heeses Erfahrung, bedarf es eines solchen Drucks von außen gar nicht: "Die meisten Regulierungsbehörden sind auch intern unterschiedlichen Zielen verpflichtet, die oft in Widerspruch zueinander geraten", sagt er. So soll etwa das CMS die öffentliche Gesundheit fördern und zugleich den rechtmäßigen Umgang mit Steuergeldern sicherstellen.

Dass die Nutzenabwägung von Regulierungsbehörden nicht auf Fälle von Leben und Tod beschränkt ist, hat der Wissenschaftler in einer zweiten Studie am Beispiel der Securities and Exchange Commission (SEC) nachgewiesen. Die Börsenaufsicht, die das Bilanzgebaren beinahe aller großen und mittleren Unternehmen in den USA überwacht, gilt in Wirtschaftskreisen als knallhart. Vier von zehn Unternehmen, die sich Ernstes haben zuschulden kommen lassen und in ihr Visier geraten, gehen bankrott, entweder wegen der hohen Geldbußen der SEC oder weil die Geldgeber ihnen das Vertrauen entziehen.

In Wahljahren sind die Behörden besonders milde gestimmt

Ein besonders krasser Fall ist jener der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Arthur Andersen, die dabei geholfen hatte, die Bilanzbetrügereien des Energiehändlers Enron zu vertuschen: Nachdem der Skandal 2001 aufgeflogen war, gingen die SEC und andere Behörden derart rigoros gegen Andersen vor, dass das Unternehmen daran zerbrach. 28 000 Mitarbeiter waren betroffen. Die überwältigende Mehrheit von ihnen hatte nie mit Enron zu tun gehabt.

Offenbar hat der Fall der SEC zu denken gegeben, denn Heese weist in seiner Studie nach, dass Firmen, deren Pleite unbescholtene Mitarbeiter oder Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit treffen würde, heute durchaus mit Milde der Börsenaufsicht rechnen können. Dass diese Tendenz in Wahljahren besonders ausgeprägt ist, zeigt, dass auch hier politische Einflussnahme noch verstärkend wirkt.

Die Folgen sind gravierend - und für Ordnungspolitiker nur schwer verdaulich: Firmen, die ein und dasselbe Vergehen begangen haben, werden in der Praxis durch das Aufsichtsamt unterschiedlich hart angepackt. Auch werden, etwa im Gesundheitswesen, politisch notwendige Reformen womöglich verhindert, wenn Regulierungsbehörden Missstände kaschieren. Und noch etwas hat Heese festgestellt: "Firmen, die merken, dass sie nicht so streng reguliert werden wie andere, legen als Folge ein aggressiveres Verhalten an den Tag." Laxe Regulierung verstärkt Mängel also noch und setzt Fehlanreize.

Dennoch will sich Heese in der Debatte über das moralisch korrekte Vorgehen der Regulierungsbehörden auf keine Seite schlagen. Die Frage, welchen Zielen etwa die SEC oder das CMS im Zweifel Priorität einräumen sollten, ist aus einer Sicht vielmehr eine politische. Was SEC-Chefin Mary Jo White von der Diskussion hält, hatte sie schon 2014 in einer Rede deutlich gemacht: "Einige Menschen bezweifeln, dass Strafverfolgungsbehörden bei der Entscheidung, ob sie ein Unternehmen anklagen oder nicht, auch die unmittelbaren und mittelbaren Folgen ihres Beschlusses bedenken sollten", sagte sie und fügte an: "Natürlich sollten sie das!" Eine Bitte der SZ um eine Stellungnahme zu Heeses Studien ließen sowohl die SEC als auch das Gesundheitsministerium unbeantwortet.

© SZ vom 30.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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