Unterirdisches Mega-Archiv:Ein Stückchen Ewigkeit

Ein aufgelassenes Bergwerk in Pennsylvania birgt die Fotosammlung von Bill Gates und andere Kostbarkeiten. Und floriert in Zeiten der Krise.

Nikolaus Piper

Der Westen Pennsylvanias erinnert oft an süddeutsche Landschaften: Wiesen, Felder, Flüsschen, kleine Dörfer, Eichen- und Ahornwälder. Auf kleinen Nebenstraßen, den "Blue Highways", kann man stundenlang fahren, ohne dass die Idylle der Kirchtürme, der roten Scheunen und der Getreidesilos gestört wird. Eine dieser Landstraßen führt quer durch Butler County, eine gute Autostunde nördlich von Pittsburgh. Und hier ist plötzlich alles ganz anders: Der Wald endet abrupt, ein paar Einfamilienhäuser säumen die Straße, dahinter ein riesiger Parkplatz und eine Rampe, die direkt in einen Berg hinein führt.

Unterirdisches Mega-Archiv: Der Eingang zum unterirdischen Foto- und Filmarchiv von Iron Mountain.

Der Eingang zum unterirdischen Foto- und Filmarchiv von Iron Mountain.

(Foto: Foto: Tom Kates)

Nicht ein einziges Schild sagt dem Besucher, wo er sich befindet oder was es mit der Rampe, dem Parkplatz oder dem großen Tor im Berg auf sich hat. Die Geheimniskrämerei hat System, denn unangemeldete Besucher sollten gar nicht erst hierher kommen.

In dem Berg befindet sich einer der sichersten Orte der Vereinigten Staaten: Der "Underground", betrieben von dem Datensicherungs-Unternehmen "Iron Mountain", ist ein aufgelassenes Kalkbergwerk, in dem die amerikanische Regierung, vor allem aber große amerikanische und internationale Firmen ihre wichtigsten Dokumente vor Diebstahl, Feuer, Naturkatastrophen und Krieg schützen. Der Sicherheitsaufwand ist enorm und fängt schon damit an, dass man als Journalist die genaue Adresse des Underground gar nicht nennen darf. "Butler County genügt", sagt die Pressesprecherin.

Überlebenswichtige Dokumente

Hinter dem Eingangstor wird der - angemeldete - Besucher penibel kontrolliert, er bekommt einen speziellen Ausweis und wird dann im Elektrokarren minutenlang durch ein Labyrinth unterirdischer Gänge gefahren. Wie Katakomben muten die Kammern an, die sich die Kunden von "Iron Mountain" reserviert haben, darunter etliche prominente Namen. "Hier lagern Unternehmen die Dokumente, die für ihr Überleben entscheidend sind", erklärt Charles Doughty, der 61-jährige Manager des Bergwerks. "Und wir können ihnen die maximale Sicherheit bieten." Zu den Daten gehören Software-Codes und Finanzinformationen; der Hotel-Konzern Marriott betreibt einen Notfall-Computer, der automatisch zugeschaltet wird, sollte das zentrale System einmal ausfallen.

Doughty, er arbeitet seit über 35 Jahren in dem Bergwerk, zählt auf, was die Firma ihren Kunden alles an Sicherheit bieten kann: "Wir haben ein seismisches Niveau von Null, das heißt, wir befinden uns in einer der erdbebensichersten Gegenden der Vereinigten Staaten." Dann macht er eine relativ komplizierte Rechnung mit vielen Zahlen auf, aus der hervorgeht, dass man auch eine sehr große Bombe oben in den Wald über dem Bergwerk werfen kann, ohne dass unten irgendetwas passiert - schließlich werden die Stollen von einer durchschnittlich 60 bis 75 Meter dicken Kalksteinschicht geschützt.

Das Labyrinth ist klimatisiert, es gibt eine eigene Feuerwache, die binnen zwei Minuten an jedem Ort innerhalb des Bergwerks sein kann; bisher war dies aber nicht notwendig. Eine eigene Anlage zur Wasseraufbereitung und ein Kraftwerk machen das Bergwerk zum Selbstversorger, jedenfalls für mindestens sieben Tage. Charles Doughty illustriert das Sicherheitskonzept des Underground am Beispiel des 11. September 2001.

Extremfall 11. Spetember

Unmittelbar nach den Terrorangriffen wurde das Bergwerk für ein paar Stunden komplett von der Außenwelt abgeschirmt. Niemand wusste zunächst, wie umfassend der Angriff auf Amerika sein würde; eines der drei von den Terroristen in ihre Gewalt gebrachten Flugzeuge war südöstlich von Pittsburgh auf freiem Feld zerschellt. Erst schrittweise wurde der Zugang danach wieder freigegeben, zunächst für Mitarbeiter, dann für Kunden und Besucher.

Unterirdisches Mega-Archiv: Iron Mountain Datenzentrum: Hier werden Daten von mehr als 400.000 Computern und 20.000 Servern archiviert.

Iron Mountain Datenzentrum: Hier werden Daten von mehr als 400.000 Computern und 20.000 Servern archiviert.

(Foto: Foto: Tom Kates)

Die Dimensionen des Hochsicherheitslagers sind gewaltig: Mehr als dreißig Kilometer unterirdischer Straßen verbinden die Lager der Kunden miteinander, für den Besucher ist es unmöglich, irgendeine Art von Orientierung zu finden. Insgesamt 170.000 Quadratmeter Grundfläche sind in dem Bergwerk bisher erschlossen, annähernd dieselbe Fläche kann bei Bedarf noch dazukommen. 2700 Beschäftigte hat der "Underground", von denen 2100 ständig anwesend sind.

Das Bergwerk ist der größte Arbeitgeber in der Region, auch wenn die meisten Einwohner noch nie von ihm gehört haben dürften. Diskretion ist ein Teil des Sicherheitsmarketings, deshalb sollen auch die Namen der meisten Kunden nicht in der Zeitung stehen. Schreiben darf man aber immerhin, dass die amerikanische Regierung dort sämtliche Originalpatente aufbewahrt, die jemals in den USA ausgestellt wurden, dazu Personalakten der Regierungsangestellten und Akten der Sozialversicherung. Schreiben darf man auch, dass Universal Music Group und BMG hier ihr Musikarchiv aufbewahren.

Auch Bill Gates ist Kunde

Und schreiben darf man über die "Corbis Film Preservation Facility", vielleicht einer der interessantesten Kunden von Iron Mountain. Das Foto-Archiv Corbis gehört Microsoft-Gründer Bill Gates und verwahrt an einer entlegenen Stelle des Labyrinths insgesamt elf Millionen historische Fotos. Die Bedeutung dieses Archivs erschließt sich aus seiner Geschichte.

Die beginnt in Berlin im Jahr 1933. Otto Bettmann, ein junger jüdischer Kunsthistoriker, arbeitete damals als Kurator an der Staatlichen Preußischen Kunstbibliothek. Schon zuvor hatte er aus Liebhaberei begonnen, Fotos aller Art zu sammeln. Zwei Jahre nach Machtergreifung der Nazis entschloss sich Bettmann auszuwandern. Er packte Fotos, Bücher und Filme in zwei große Seekisten und setzte sich in den Zug nach Amsterdam. An der Grenze filzten ihn die deutschen Zöllner, sie nahmen ihm sein Bargeld als "Reichsfluchtsteuer" ab, ließen ihm aber die Fotos. Bettmann hörte noch, wie ein Zöllner zum anderen mit Blick auf die beiden Kisten sagte, der Jude sei wohl "ein bisschen verrückt".

Der Inhalt der beiden Seekisten wurde zum Kern des Bettmann-Archivs, einer der wichtigsten Foto-Sammlungen der Welt. Otto Bettmann wanderte in die Vereinigten Staaten aus und professionalisierte dort das Geschäft mit dem Sammeln und Lizensieren historischer Fotos. Bis 1960 bewahrte er das Archiv in seiner Wohnung in Manhattan auf, später lagerte er die Fotos in das berühmte Tishman Building an der Fifth Avenue aus. 1981 verkaufte Bettmann alles an einen amerikanischen Unternehmer, und von dem erwarb Corbis das Archiv 1995. Seit 2001 befindet es sich in einem 1000 Quadratmeter großen Kellerstück unter der Erde.

"Fotos dauerhaft für alle zugänglich"

Der Kauf dieser Schätze durch Bill Gates und deren Verlagerung nach Pennsylvania waren damals durchaus umstritten. Viele Fotografen und Bildredakteure fürchteten, ein Teil des Menschheitserbes könnte abgeschlossen und kommerzialisiert werden. Dann habe Corbis die Kritiker in den Underground eingeladen, und seither sei die Kritik verstummt, berichtet Ann Hartman, die Managerin des Archivs. "Wir haben die Leute von unserem Konzept überzeugen können: Wir editieren die Fotos und konservieren sie und machen sie so überhaupt erst dauerhaft für alle zugänglich", sagt sie.

Hartman führt den Besucher in einen riesigen Kühlraum, der mit Archivschränken zugestellt ist. Gut ist es, eine warme Jacke mitzubringen, denn hier herrschen beständig sechs Grad Celsius und 35 Prozent Luftfeuchtigkeit. Das ist notwendig, um den chemischen Zerfall des Fotomaterials zu stoppen.

Beatles, Monroe und Einstein für ewige Zeiten archiviert

Unterirdisches Mega-Archiv: Der unterirdische Kontrollraum überwacht alle internen Systeme und äußeren Einflüsse, wie zum Beispiel das Wetter.

Der unterirdische Kontrollraum überwacht alle internen Systeme und äußeren Einflüsse, wie zum Beispiel das Wetter.

(Foto: Foto: Tom Kates)

"Was wollen Sie sehen?" fragt Ann Hartman. - "Haben Sie was von den Beatles?" - "Klar", antwortet sie, geht zu der Schrankreihe mit den Fotos und zieht eine dicke Mappe mit Klassikern hervor: die Beatles bei der Ankunft in New York, die Beatles in Hamburg. Weiter hinten finden sich die Archive zur amerikanischen und zur europäischen Geschichte, Porträts und Negative im klassischen Großformat. Fünf Millionen Bilder wurden bisher von Corbis-Mitarbeitern editiert, also durchgesehen und sachlich und zeitlich zugeordnet. 250.000 Bilder sind bereits digitalisiert und damit, nach menschlichem Ermessen, für ewige Zeiten archiviert.

Die Juwelen lagern bei minus 17 Grad

Ann Hartman geht weiter und zeigt auf einen Tiefkühlschrank. "Und hier bewahren wir unsere Juwelen auf", sagt sie. Die Temperatur in dem Schrank liegt bei minus 17 Grad Celsius, genau richtig, um die wertvollsten Negative und Fotoabzüge "für Generationen" aufzubewahren.

Zu den Corbis-Juwelen gehören etliche Ikonen der Zeitgeschichte: Marilyn Monroe mit wehendem Rock über dem U-Bahn-Schacht in Manhattan, Albert Einstein mit herausgestreckter Zunge, die junge Schwarze Rosa Parks bei ihrer historischen Busfahrt am 1. Dezember 1955 in Montgomery (Alabama), als sie sich weigerte, ihren Platz für einen Weißen freizumachen und so den entscheidenden Anstoß zur Bürgerrechtsbewegung gab.

Die Geschichte des Bettmann-Archivs zeigt im kleinen, wie die sichere Aufbewahrung von Dokumenten im Laufe der Jahre immer wichtiger wurde, wie Politik und Technologie hineinspielten und wie daraus ein lukratives Geschäft wurde.

Ein Kind des Kalten Krieges

Im Großen spiegelt sich dies in der Geschichte des Hochsicherheitslagers selbst wieder. Im Jahr 1902 eröffnete der Konzern US Steel ein Bergwerk, um Kalkstein für die Stahlproduktion entlang des Ohio River zu gewinnen. 1950 wurde das Bergwerk stillgelegt, 1954 machte ein Unternehmer daraus einen Sicherheitsbunker namens "National Storage". Das war ein Jahr nach Ende des Korea-Krieges und mitten in der heißesten Phase der Ost-West-Konfrontation.

"National Storage" bot Banken die Möglichkeit, ihre Dokumente vor einem Atomschlag zu schützen, außerdem strahlensichere Unterkünfte für das Top-Management seiner Kunden. Die Angst vor dem Angriff der Sowjetunion schwand irgendwann, aber der Bedarf an sicheren Lagerstätten stieg weiter. 1998 wurde "National Storage" an den Konzern "Iron Mountain" verkauft.

Gründer war ein Pilz-Züchter

Auch der Hintergrund dieses Unternehmens ist bemerkenswert. Gründer war ein gewisser Herman Knaust, der in einem ehemaligen Bergwerk im Bundesstaat New York viele Jahre Pilze züchtete und deshalb von seinen Nachbarn "Pilz-König" genannt wurde. Als das Geschäft nach dem Zweiten Weltkrieg schlechter lief, gab er 1951 die Pilzproduktion auf, nannte sein Pilz-Bergwerk in "Iron Mountain" ("Eiserner Berg") um und gründete eine Firma, die sich der atomsicheren Verwahrung von Dokumenten widmete.

Knaust schaffte es, den Kriegshelden General Douglas MacArthur zum Besuch seines Bunkers zu bewegen, und nutzte den damit verbundenen Rummel, um sein Geschäft weiter auszubauen. Erster Kunde Knausts war eine Bank, die Mikrofilme mit Kundendaten bei ihm lagerte. Heute ist Iron Mountain ein börsennotiertes Unternehmen mit 2,7 Milliarden Dollar Umsatz, 20.000 Mitarbeitern in 37 Ländern, darunter auch Deutschland.

Gerade in Krisenzeiten läuft das Geschäft mit dem Aufbewahren von Dokumenten gut. "Historisch gesehen, waren Jahre des Abschwungs für uns immer gute Jahre", sagt Charles Doughty. "Die Firmen schauen sich ihre IT-Kosten an und überlegen sich, ob sie nicht durch Auslagerung Geld sparen können."

Vermutlich werden in den nächsten Jahren ein paar Quadratmeter Fläche zum Underground dazu kommen.

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