Ungleichheit:Fehlende Chancengleichheit ist sozialer Sprengstoff

G20 Gipfel - Demos

Protest gegen Ungleichheit in Deutschland: Aktivisten von Oxfam stehen mit Masken der Regierungschefs an den Landungsbrücken Hamburg.

(Foto: dpa)

Strenge dich an, dann geht es dir gut - viele fürchten, dass dieses Versprechen des Kapitalismus nicht mehr für sie gilt. Höchste Zeit für einen Eingriff des Staates.

Gastbeitrag von Volker Grossmann und Guy Kirsch

Freude und Genugtuung sind berechtigt, wenn es um die Erfolge geht, die der Kapitalismus im Laufe der vergangenen Jahrzehnte erreicht hat: Im Durchschnitt ist die Lebenserwartung gestiegen, die Kindersterblichkeit ist zurückgegangen und der materielle Wohlstand hat zugenommen. Die Liste lässt sich beliebig verlängern. Die Freude darüber ist auch dann berechtigt, wenn wir in Rechnung stellen müssen, dass ein Teil dieser Erfolge Kosten verursacht hat, die kommende Generationen zu tragen haben. Der Klimawandel und die ungeklärte Endlagerung von Nuklearabfällen mögen hier als Stichworte genügen.

Wenn aber die Freude über das Erreichte berechtigt ist, dann stellt sich doch die Frage, woher das Unbehagen, ja, die Animosität jener kommt, die mit den herrschenden Zuständen unzufrieden sind. Und die das kapitalistische System oder die politische Ordnung der westlichen Demokratien selbst dann ablehnen und bekämpfen wollen, wenn sie deren Erfolge nicht glaubhaft leugnen können.

Die Antwort auf diese Frage ist sehr einfach und sie hat weitreichende Konsequenzen: Auch wenn dieses System insgesamt große Erfolge vorweisen kann, so ist doch ebenfalls klar, dass einige Menschen wesentlich mehr als andere an diesen Erfolgen partizipieren. Ja, es gibt Menschen und Gruppen, die befürchten, in einer insgesamt erfolgreichen Gesellschaft zu den Verlierern zu gehören und abgehängt zu werden. Will sagen: Auch eine sehr erfolgreiche Gesellschaft mag deshalb kritisiert, im Zweifel abgelehnt und bekämpft werden, weil ihre Erfolge ungleich bei den Einzelnen ankommen, oder weil der gesamtgesellschaftliche Erfolg unter Umständen erst durch das Scheitern Einzelner ermöglicht wird.

Problematisch wird diese Ungleichheit dann, wenn sie sich perpetuiert, wenn also der Satz gilt: Weil du heute arm bist, werden es deine Kinder morgen auch sein. Und: Weil du heute reich bist, werden es deine Kinder morgen ebenfalls sein können. Man kann es auch so sagen: Nicht die sozioökonomische Ungleichheit ist das Problem, sondern die erstarrte, die gleichsam versteinerte Ungleichheit.

Über die Autoren

Volker Grossmann ist Professor für Makroökonomie, Internationale Industrie-und Wachstumspolitik an der Universität Freiburg (Schweiz). Guy Kirsch ist Professor für Neue Politische Ökonomie in Freiburg.

Der Erfolg rechtslastiger Parteien ist Ausdruck eines aggressiven Unbehagens

Nun mag man darüber streiten, in welchem Maße die Ungleichheit erstarrt ist, wie sehr also der Weg von unten nach oben für wie viele mehr oder weniger steinig geworden oder sogar versperrt ist. Unbestreitbar ist aber, dass die Verhältnisse von vielen so gesehen und erlebt werden. Ist dem aber so, dann kann es nicht verwundern, dass eben jene, denen der Weg nach oben versperrt ist, zur mehr oder weniger aggressiven Ablehnung der bestehenden Verhältnisse neigen (wenn sie nicht gleich in antriebslose Apathie verfallen).

Die Versuchung ist groß, diese Ablehnung des Systems zu bagatellisieren, oder sie im Zweifel gleich mit polizeilichen Methoden zu bekämpfen. Nützlicher wäre es, das Unbehagen jener, die sich abgehängt fühlen, ernst zu nehmen. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die Umstürze der vergangenen Jahrhunderte hier ihren Ursprung hatten: 1789 stürmten die Franzosen die Bastille nicht deshalb, weil sie Rousseau oder Diderot gelesen hatten, sondern weil sie hungerten und weil sie keine Aussicht auf Besserung sehen konnten. Auch haben die Russen 1917 ihren Zaren nicht deshalb gestürzt, weil sie Marx und Engels gelesen hatten, sondern weil die Ungleichheit der Lebensverhältnisse zu groß und zu erstarrt war. Schließlich haben die Deutschen 1933 die nationalsozialistische Revolution nicht deshalb johlend begrüßt, weil sie etwa Hitlers "Mein Kampf" gelesen hatten, sondern weil ihnen versprochen wurde, endlich wieder "dabei" zu sein, also mitgenommen zu werden.

Mit gutem Grund wird man an dieser Stelle einwenden, dass gegenwärtig zumindest in Deutschland von vorrevolutionärer Stimmung nicht die Rede sein kann. Abgesehen davon, dass Ludwig XVI. und der Zar Nikolaus auch nicht gesehen hatten, was sich an gesellschaftlichem Sprengstoff angehäuft hatte, ist man dennoch gut beraten, in dem Aufstieg rechtslastiger Parteien und Bewegungen den Ausdruck eines aggressiven Unbehagens an der Gesellschaft zu erkennen. Ein Präsident wie Donald Trump wäre in den USA wohl nicht denkbar, wenn nicht jene, die unten sind, befürchten müssten, unten zu bleiben oder sogar noch weiter abzusteigen. Auch der teils gewalttätige Protest auf dem G-20-Gipfel in Hamburg mag eine Folge solcher Ängste gewesen sein.

Die Sterblichkeit durch Alkohol- und Schmerzmittelmissbrauch ist erheblich gestiegen

Gerade die Vereinigten Staaten sind ein Negativbeispiel dafür, was geschieht, wenn die Politik auf wirtschaftsliberalen Grundsätzen aufgebaut wie "Jeder ist seines Glückes Schmid" oder auch auf die These vom trickle down, wonach das Wachstum von Einkommen und Vermögen bei den gut Situierten früher oder später auch bei der breiten Bevölkerung ankommt, und zwar ohne wohlfahrtsstaatliche Unterstützung bei Bildung, Gesundheit oder durch Sozialtransfers.

Aber trickle down funktioniert eben nicht. Deindustrialisierung und die Auslagerung von Jobs der ehemaligen Mittelschicht in den USA haben nicht nur dazu geführt, dass das Einkommen der weißen, männlichen Mittelschicht mittleren Alters seit den 1980er Jahren real nicht mehr gestiegen ist, sondern dass die Betroffenen zunehmend prekäre Beschäftigungsverhältnisse annehmen mussten und die Ausbildung ihrer Kinder nicht mehr finanzieren können. Wie der Nobelpreisträger Angus Deaton mit seiner Frau Ann Case gezeigt hat, ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten als Folge dieser Entwicklung die Sterblichkeit durch Suizid sowie durch Alkohol- und Schmerzmittelmissbrauch erheblich gestiegen.

Ohne reiche Eltern geht Vieles nicht mehr

Ironischerweise sind - entgegen dem Klischee vom Tellerwäscher, der Millionär wird - die Aufstiegschancen von Kindern aus ärmeren Familien in den USA so gering sind wie nirgends sonst in der westlichen Welt. Gemäß einer kürzlich veröffentlichten Studie verdienen etwa 60 Prozent der heute 30-Jährigen weniger als ihre Väter im gleichen Alter. Auch in Deutschland spüren die Menschen, dass es trotz allgemeinen Wirtschaftswachstums längst nicht mehr sicher ist, dass es der Mehrheit der Kinder so gut oder besser gehen wird wie ihren Eltern.

Empirische Befunde legen nahe, dass eine hohe Einkommens- und Vermögensungleichheit die Chancengleichheit einschränkt und damit leistungsfeindlich ist. In Deutschland sind noch keine amerikanischen Verhältnisse erreicht, aber auch hier besitzen die reichsten zehn Prozent über drei Fünftel des Vermögens. Bereits heute ist - mit stark steigender Tendenz - etwa die Hälfte dieses Vermögens vererbt worden, also ist nicht auf eigene Arbeits- oder Sparleistung zurückzuführen. Indes steigen bereits seit Jahrzehnten die Mieten und Wohnungspreise in den Städten, wo junge Menschen Jobs finden. Ohne reiche Eltern stellt dies für viele zunehmend ein Problem dar und verstärkt tendenziell die Ungleichheit.

Durch die in Zukunft anfallenden enormen Erbschaften wird sich die Gesellschaft weiter spalten. Viele werden auch bei größtem Engagement auf dem Arbeitsmarkt im Alter auf Renten angewiesen sein, die aller Voraussicht nach unter denen ihrer Eltern liegen. Sie werden in vielerlei Hinsicht nicht in die Nähe der gleichaltrigen Erben kommen, die einfach das Glück hatten, in die richtige Familie hineingeboren zu werden. Sie erhalten, anders als diese, keine Nachhilfe bei Schulproblemen, keinen Musikunterricht und keinen durch den Vater vermittelten Praktikumsplatz in London. Ein solcher Mangel an Chancengleichheit ist leistungsfeindlich und sozialer Sprengstoff zugleich.

Liberale sollten nicht die Partikularinteressen Einzelner vertreten

Umso erstaunlicher ist es, dass viele Menschen in Medien und Politik, die sich als Liberale verstehen, darin kein Problem sehen und, statt als Anwälte für die Entfaltung der Einzelnen aufzutreten, mit Verweis auf Eigentumsrechte die Partikularinteressen Vermögender schützen. Mit derselben Argumentation könnte man auch ablehnen, dass jemand, der mit 100 Stundenkilometer durch die Innenstadt fährt, dafür ein Bußgeld zahlen muss. Das wäre gemäß der angeführten Logik ebenfalls ein Eingriff in die Eigentumsrechte. Das Gefährden anderer Verkehrsteilnehmer ist dabei nicht unbedingt schlimmer als die Chancengleichheit zu gefährden; siehe das Beispiel der abnehmenden Lebenserwartung amerikanischer Globalisierungsverlierer. Man kann auch sagen: Das Privateigentum ist um der einzelnen Menschen willen da; nicht aber diese um der Eigentumsrechte willen.

Dies scheint auch der eine oder andere reiche Eigentümer zu denken, der Millionen, gar Milliarden der Förderung gesellschaftspolitischer Anliegen widmet. Die Schenkungen und Stiftungen sind hoch zu loben. Doch auch dann, wenn man den Stiftern seinen Respekt nicht versagt, bleibt ein ungutes Gefühl. Der Grund: Hier werden gesellschaftspolitisch relevante Entscheidungen von reichen und mächtigen Privatpersonen getroffen. Nun setzt aber eine liberale Gesellschaft voraus, dass die wirtschafts- und gesellschaftspolitisch relevanten Entscheidungen von allen Bürgern und nicht von einigen wenigen getroffen werden. Mögen die Stiftungen etwa von Warren Buffet, Mark Zuckerberg oder Bill Gates hoch willkommen sein, so ersetzen sie doch nicht eine Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik, die der Willensausdruck aller freien und gleichen Bürger ist.

So ließe sich auf kommunaler Ebene durch bessere Jugend- und Sozialarbeit, intensive Betreuung von Kindern aus ärmeren Familien, mehr soziale Durchmischung in Wohngegenden oder Ausbau des öffentlichen Verkehrs auch außerhalb großer Städte viel mehr zur Förderung von Chancengleichheit erreichen als durch große Stiftungen. Die Finanzierung sollten diejenigen tragen, die von sozialer Kohäsion und geringer Eigentumskriminalität am meisten profitieren: die Eigentümer großer Vermögen.

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