Umweltpolitik:"Die reiche Welt hat viel gutzumachen"

UN-Umweltchef Achim Steiner über massive Fehler beim Klimaschutz, riesige Ströme von Flüchtlingen - und harte Kritik an der Rolle der Energiekonzerne.

Markus Balser

Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) warnt vor der ökologischen Katastrophe. Der internationale Klimaschutz drohe angesichts der globalen Finanzkrise unter die Räder zu kommen, warnt Generaldirektor Achim Steiner. Stillstand in der Klimapolitik sei ein "historischer Fehler". Steiner fordert im Interview mit der Süddeutschen Zeitung einen radikalen ökologischen Umbau der Weltwirtschaft. Andernfalls drohten der Kollaps ganzer Ökosysteme, die rasche Ausbreitung von Krankheiten und Flüchtlingsströme bislang unbekannten Ausmaßes.

Achim Steiner, dpa

UNEP-Generaldirektor Achim Steiner: "Die Zeit zum Handeln rinnt uns wie Sand durch die Finger."

(Foto: Foto: dpa)

SZ: Herr Steiner, die Welt steckt 3000 Milliarden Euro in die Rettung ihres Finanzsystems. Hat das grüne Weltgewissen schon mal neidvoll Nullen gezählt?

Steiner: Ja tatsächlich. Sage und schreibe zwölf hinter der drei.

SZ: Italiens Ministerpräsident Berlusconi findet, wer da noch ans Klima denkt, gebe den Patienten mit Lungenentzündung, der sich eine Dauerwelle wünscht. Kommt der internationale Klimaschutz unter die Räder?

Steiner: Die Gefahr besteht, und es wäre eine Tragödie. Faule Kredite sind ohne Frage ein großes Problem, aber letztlich nicht vergleichbar mit der Herausforderung, unser Klima zu retten. Wer behauptet, wir könnten uns Klimaschutz nicht mehr leisten, macht einen historischen Fehler.

SZ: Wie viel Zeit bleibt zum Handeln?

Steiner: Sie rinnt uns wie Sand durch die Finger. Der Globus heizt sich Tag für Tag auf. Schon jetzt lässt sich nur noch beeinflussen, wie gravierend der Klimawandel wird. Eine Erwärmung um fast ein Grad ist nicht mehr zu verhindern. Historiker werden uns eines Tages daran messen, ob wir jetzt die Zukunft der Menschheit aufs Spiel setzen. Vielleicht werden sich unsere Enkelkinder fragen: Wie konnte eine Generation, die das Wissen, die Möglichkeit, die Mittel und die Technik hatte, einfach nicht handeln?

SZ: Was wäre die Konsequenz?

Steiner: Die Szenarien sind nur schwer vorstellbar: Ganze Ökosysteme können kollabieren, steigende Meeresspiegel Städte und Häfen bedrohen. Wenn Gletscher im Himalaja abschmelzen, gefährdet das die Lebensgrundlage von Hunderten Millionen Menschen. Viele Arten werden aussterben, Krankheiten wie Malaria verändern ihr Erscheinungsbild und breiten sich rascher aus. In Südeuropa und Afrika drohen verheerende Dürren, in Nordeuropa starke Niederschläge und Stürme.

SZ: Der Raubbau geht ungebremst weiter. Noch immer steigen die Emissionen, statt zu sinken. Allein während dieses Interviews werden tausend Hektar Regenwald abgeholzt. Warum wirken Ihre dramatischen Appelle nicht?

Steiner: Nicht nur die Appelle, sondern auch die Ergebnisse der Wissenschaft beginnen sehr wohl in der Öffentlichkeit zu wirken, aber die politische Bereitschaft zu handeln ist zu schwach. Vielleicht, weil sich die Gefahren schleichend nähern, nicht wie bei der Finanzkrise mit einem Paukenschlag. Dabei sind die ökonomischen Risiken noch größer: Klimawandel und Armut könnten zu Flüchtlingsströmen bislang unbekannten Ausmaßes führen. Wir werden erleben, dass Gesellschaften 20 oder 30 Millionen Menschen umsiedeln müssen. Es drohen Milliardenschäden und Instabilitäten, vor denen sich kein Land schützen kann.

SZ: Wissenschaftler fordern eine radikale Umkehr: 80 Prozent weniger Emissionen in den Industriestaaten bis 2050. Ist das wirklich machbar?

Steiner: Ja, und wir haben dafür genug Beispiele. In den nächsten zehn Jahren müssen wir die Emissionen stabilisieren. Dafür müssen die Industrieländer ihren Ausstoß bis 2020 um 20 bis 40 Prozent senken. Das wird der erste große Klimaschritt.

SZ: Wie soll das klappen: Weniger Flüge, weniger Autofahrten - Verzicht also?

Steiner: Nein, es geht um mehr. Wir müssen unsere Art zu wirtschaften ändern. Das alte System, Umweltschäden nicht ökonomisch zu erfassen, hat ausgedient. Nachhaltig zu wirtschaften bedeutet vor allem, effizienter zu handeln. Dieser Leitgedanke eröffnet für die Volkswirtschaft wie auch Unternehmen enorme Möglichkeiten, mit neuen Technologien und Verfahren neue Arbeitsplätze zu schaffen. Wir brauchen einen grünen ‚New Deal', eine Kraftanstrengung mit öffentlichen Investitionen wie in den USA in den 30er Jahren gegen die Große Depression. Das Ziel: Wachstum in grünen Branchen schaffen.

"Das Boot ist voll"

SZ: Und wer zahlt das?

Regenwald, dpa

Dichter Regenwald auf der Ilha do Cardoso im Bundesstaat Sao Paulo in Brasilien: Die fortschreitende Abholzung trägt mit zur globalen Erderwärmung bei.

(Foto: Foto: dpa)

Steiner: Ein Drittel der Konjunkturpakete weltweit könnte aus Sicht der UNEP in den grünen Umbau der Ökonomien fließen. Wir müssen auch den Finanzsektor über Auflagen einbinden, einen guten Teil des Geldes, das sie bekommen, in erneuerbare Energien, mehr Energieeffizienz, einen Umbau des Transportsystems, nachhaltige Landwirtschaft und mehr Schutz für die Ökosysteme zu stecken. Das ist auch ein ethisches Gebot. Künftige Generationen haben ein Recht darauf, dass wir diese Schulden auch in die Arbeitsplätze von morgen investieren.

SZ: Glauben Sie wirklich? Eine globale Klima-Initiative rückt doch in weite Ferne. Industriestaaten fordern größere Beiträge der Entwicklungsländer. Die verweisen auf die historische Schuld der Ersten Welt. Wer muss einlenken?

Steiner: Die reiche Welt hat viel gutzumachen. Wir haben uns eine erstaunliche Entwicklung gegönnt. 150 Jahre industrielle Revolution hatten einen hohen Preis - mit Emissionen, die 1000 Jahre in der Atmosphäre bleiben. Auf der anderen Seite stehen Länder wie Kambodscha, in denen ein Einzelner pro Jahr weniger Energie verbraucht als eine Klimaanlage in Florida. Wenn Entwicklungsländer jetzt aufholen, hören sie plötzlich: "Tut uns leid, das Boot ist voll, die Kassen sind leer, fossile Brennstoffe fast aus." Und: "1,4 Milliarden Chinesen können doch unmöglich so leben wie Amerikaner." Dass diese Einstellung zu einer Verweigerungshaltung im Süden führt, kann niemanden überraschen.

SZ: Die Energiefrage wird die Zukunft des Klimas entscheiden. Wann können Sonne und Wind Kohle und die Atomkraft ablösen?

Steiner: Schneller als viele denken. Atom, Öl und Kohle sind die Energiequellen von gestern, was nicht heißt, dass sie uns nicht noch eine Weile begleiten. Wir erleben aber schon heute eine grüne Revolution im Energiesektor. Windenergie, aber auch Solarenergie und Geothermie werden zu konkurrenzfähigen Energieträgern. Sie sind mittelfristig in der Lage, fossile Energien und die Kernkraft zu ersetzen. Auch in Deutschland könnten sie bald 40 Prozent des Stroms liefern - fast das Dreifache der heutigen Menge. Die Technik ist nicht mehr der Punkt.

SZ: Sondern?

Steiner: Die richtigen Rahmenbedingungen schaffen - Anreize für Forschung, Entwicklung und Verbreitung von Erneuerbaren und Abbau von Subventionen für fossile Brennstoffe.

Herausforderungen für die Wirtschaft

SZ: Energiekonzerne erklären Erneuerbare gerne zur fernen Vision und investieren in neue Atom- und Kohlemeiler.

Steiner: Das wundert mich nicht. Sonne, Wind oder Geothermie sind eine Herausforderung an das Geschäftsmodell der Versorger. Möglich, dass wir in kommenden Jahrzehnten nicht mehr auf die teuren Kern- oder Kohlekraftwerke angewiesen sind, in die heute noch Milliarden fließen. Um es klar zu sagen: Wir dürfen uns nicht von Energiekonzernen vorschreiben lassen, was geht und was nicht. Das müssen Politik und Gesellschaft entscheiden. Als Deutschland vor ein paar Jahren ein Zehn-Prozent-Ziel für Erneuerbare ausgegeben hat, haben viele Energieexperten auch behauptet, das wäre ein Langzeittraum. Heute sind 15 Prozent bereits überschritten.

SZ: Deutsche Konzerne wollen die Sahara als Energiequelle erschließen. Kann wirklich in zehn Jahren Strom fließen?

Steiner: Absolut. Ich halte das für realistisch. Pilotanlagen in den USA und Spanien funktionieren. Die Technik ist reif für die ersten Großprojekte. Ausschlaggebend ist ein Geschäftsmodell, das öffentliche und private Investoren zusammenführt.

SZ: Energiekonzerne warnen vor Abhängigkeiten von Regimen Nordafrikas und fürchten Terroranschläge. Sie nicht?

Steiner: Jeder Energieträger birgt Risiken - erinnern wir uns an Ölkrisen, Gas aus Russland oder Tschernobyl bei Atomkraft. Die Desertec-Initiative plant Solarkraftwerke von Marokko bis Saudi-Arabien. Ich sehe eher Vor- als Nachteile. Wir werden Afrika politisch stärker an Europa binden und es aus alten Abhängigkeiten befreien. Wie viele Kriege wurden bereits um Öl geführt? Um Sonne werden wir keinen einzigen führen müssen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: