Twitter:Rettung aus der Steinzeit

Twitter galt einmal als das nächste große Ding. Mittlerweile weiß die Firma nicht mehr weiter. Helfen könnte nun ausgerechnet ein Unterhaltungskonzern aus dem Jahre 1923: Disney.

Von Claus Hulverscheidt und Helmut Martin-Jung, New York/München

Apple hat sich wohl noch nicht gemeldet. Ansonsten aber soll beinahe jeder, der sich zur ersten Liga der US-Tech- und Kommunikationsindustrie zählt, mittlerweile den Finger gehoben haben. Microsoft, Google, Verizon, Salesforce und jetzt auch Disney. Sie alle wollen angeblich den finanziell schwächelnden Kurznachrichtendienst Twitter übernehmen, der seit Monaten sondiert, unter welches Dach er schlüpfen könnte. Eine Erfolgsmeldung ist für Vorstandschef Jack Dorsey beinahe Pflicht. Bleibt sie aus, könnte die ohnehin gebeutelte Firmenaktie endgültig ins Bodenlose stürzen.

Dass Twitter und andere soziale Netzwerke gerade unter IT-Größen so viel Fantasie auslösen, liegt an dem Rohstoff, den sie zu bieten haben: Daten. Wer über Twitter Nachrichten, Fotos und Videos verbreiten will, muss sich damit einverstanden erklären, dass das Unternehmen Informationen etwa zum Surfverhalten und zu den eigenen Interessen weiterverkauft. Auch ein neues Mutterunternehmen könnte die gesammelten Daten nutzen, um eigene Produkte und Dienstleistungen, aber auch Werbeanzeigen von Kunden zielgerichteter an die Frau und den Mann zu bringen.

Aus dem Grund hat der Software-Riese Microsoft gerade das Karriere-Netzwerk Linked-In für die horrende Summe von 26,2 Milliarden Dollar übernommen. Über Linked-In können sich Berufstätige miteinander vernetzen. Die Algorithmen analysieren das entstehende Geflecht und bieten den Mitgliedern maßgeschneidert freie Stellen an. Die so entstehenden Nutzerprofile sind auch für Dritte interessant.

Alle IT-Größen haben enorme Summen investiert, um mithilfe von künstlicher Intelligenz in großen Datenmengen Trends zu erkennen, Kaufinteressen herauszufiltern und Schlüsse daraus zu ziehen. Das Thema hat stark Fahrt aufgenommen, seit durch die rasante Entwicklung bei Computerchips die nötige Rechenkapazität relativ preiswert zur Verfügung steht. Auch bei den Algorithmen gibt es große Fortschritte. Die Analysemöglichkeiten werden sich daher weiter deutlich verbessern.

Twitter: Jabadabadu! "Familie Feuerstein" läuft auf dem Disney Channel. Der Konzern soll an Twitter interessiert sein. Viele nutzen den Dienst beim Fernsehen.

Jabadabadu! "Familie Feuerstein" läuft auf dem Disney Channel. Der Konzern soll an Twitter interessiert sein. Viele nutzen den Dienst beim Fernsehen.

(Foto: Disney)

Auch andere Konzerne sollen sich für das Unternehmen interessieren - etwa Google

Je besser die Nutzerprofile werden, desto kräftiger schießen die Preise für eine Übernahme sozialer Netzwerke in die Höhe. Gerade Twitter hat zudem sein Portfolio erweitert. Das Netzwerk zeigt neuerdings etwa Spiele der US-Footballliga NFL. Auch das erste Fernsehduell der beiden US-Präsidentschaftskandidaten Hillary Clinton und Donald Trump in der Nacht zu Dienstag wurde live übertragen.

Das Problem jedoch ist: So begeistert Politiker, Aktivisten, Prominente, Unternehmen und auch Journalisten den Dienst nutzen, so wenig ist er bisher im breiten Publikum verankert. Die Zahl der Mitglieder, die wenigstens einmal im Monat eine Twitter-Nachricht absetzen, stagniert seit einiger Zeit bei etwa 310 Millionen. Damit ist man weit entfernt von Konkurrenten wie Facebook und Instagram. Vielmehr rückt von hinten bereits Snapchat nach. Der Foto-Dienst hat Twitter bei der Zahl der täglichen Nutzer schon überholt.

Hinzu kommt: Twitter hat in den zehn Jahren seines Bestehens noch nie Gewinne erzielt. Solange die Einnahmen stiegen, sahen viele Anleger darüber hinweg. Seit aber auch das Umsatzwachstum verflacht, kennt der Aktienkurs nur noch eine Richtung: bergab. Allein in den vergangenen gut 16 Monaten hat das Twitter-Papier zwei Drittel seines Werts eingebüßt. Erst seit dem Aufkommen der neuen Übernahmegerüchte geht es wieder merklich nach oben. Entsprechend groß ist der Druck auf Dorsey, nun auch tatsächlich eine neue Mutterfirma zu präsentieren.

Wer am Ende das Rennen machen wird, ist völlig offen, zumal sich die Beteiligten in Schweigen hüllen. Dass der Telekommunikationskonzern Verizon tatsächlich zugreift, wird in Branchenkreisen bezweifelt, denn das Unternehmen hat derzeit genug damit zu tun, den jüngsten Erwerb Yahoo in den Konzern zu integrieren und mit AOL zu verschmelzen, dem zweiten zugekauften Internet-Dino. Auch Salesforce hat wohl eher Außenseiterchancen. Der Anbieter von Software für die Kundenpflege, der Twitter zu einer Mischung aus Nachrichtenkanal und Vermarktungsplattform für die Kunden umbauen könnte, hatte schon den Bieterkampf um Linked-In verloren.

Ein wahrscheinlicherer Kandidat wäre der Suchmaschinenriese Google, in dessen Verwaltungsrat Dorsey bereits sitzt. Das von Google entwickelte soziale Netzwerk Google Plus gilt bislang als Flop. Twitter könnte das breit gefächerte Portfolio der Google-Mutter Alphabet ergänzen und den Konzern in die Spitzengruppe der Social-Media-Anbieter katapultieren. Denkbar wäre auch eine Verbindung von Twitter mit der Alphabet-Tochter Youtube.

Am logischsten allerdings könnte ein Zusammengehen mit ausgerechnet demjenigen Bieter sein, der auf den ersten Blick am abwegigsten erscheinen mag: Disney. Der Unterhaltungs- und TV-Konzern, gegründet im Jahr 1923, ist auf der Suche nach neuen Vertriebsformen. Statt über das Kabelnetz könnte Disney Inhalte künftig über Twitter anbieten. Schon jetzt nutzten viele den Dienst hauptsächlich dafür, Fernsehen live zu kommentieren. So gehört der "Tatort" sonntagabends oft zu den meistbesprochenen Ereignissen auf Twitter in Deutschland.

Ein Hindernis für manche Anwärter wäre wohl der hohe Kaufpreis, der Dorsey angeblich vorschwebt. Von 30 Milliarden Dollar ist die Rede, viele Experten halten 18 bis 20 Milliarden für realistischer. Für die ganz Großen unter den Interessenten wäre aber auch die höhere Summe kein Problem. Für Google etwa. Und falls man sich in Cupertino doch noch an frühere Flirts mit Twitter erinnert: auch für Apple.

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