Türkeis Wirtschaftsminister:Regierungsvize, Kurde, EU-Freund

Türkeis Wirtschaftsminister: Türkische Beamte führen eine Demonstrantin ab, die sich an einem Pro-Kurden-Protest beteiligt hat.

Türkische Beamte führen eine Demonstrantin ab, die sich an einem Pro-Kurden-Protest beteiligt hat.

(Foto: Ilyas Akengin/AFP)

Wie Mehmet Şimşek zwischen Erdoğan und Europa vermittelt.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Außer in den Reihen der Opposition gibt es momentan nicht mehr so wirklich viele Europa-Anhänger in der Türkei. Dieser eine aber hat sich gerade besonders verdient um das türkisch-europäische Verhältnis gemacht: Vize-Premier Mehmet Şimşek.

Als die regierungsnahe Zeitung Yeni Şafak die EU mal wieder angesichts der vielen Probleme vor dem Auseinanderbrechen sah, konterte Şimşek. Die EU sei eine Erfolgsgeschichte von einem Leben in Frieden und Wohlstand. Was danach passierte, beschreibt er am Dienstagabend in Istanbul deutschen Journalisten. Er sei für seine Äußerungen "fast gekreuzigt" worden.

Für einen Augenblick hatte der 49-Jährige einen Eindruck davon bekommen, was es bedeutet, mal nicht in das allgemeine EU-Untergangsgebrüll einzusteigen und von der Regierungslinie ein wenig abzuweichen. In Şimşek - den für Wirtschaftsfragen zuständigen Regierungsvize - hat zumindest Europa noch einen Ansprechpartner, der in der EU einen "Quell der Inspiration" sieht. Das sagte er am Dienstag, trotz des Ärgers, den es gibt.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan ist der Meinung, die Türkei bräuchte Europa nicht. Şimşek sagt: das Gegenteil. Ein Aufbegehren? Ein Konflikt? Eher: Arbeitsteilung.

Auch Erdoğan weiß, wie wichtig der Handel mit Europa für sein Land ist. Şimşek kann ohne Wut erklären, warum sich in der Türkei seit einiger Zeit aber ein Stimmungsmix aus Desillusion, Frust und Wut breitmacht, wenn es um die EU geht. Er sagt, er könne ja selbst nicht behaupten, die EU sei ein ehrlicher, prinzipientreuer Partner, schließlich befinde sich sein Land seit mehr als 50 Jahren im Warteraum zur EU.

Das Gefühl, nicht geliebt zu werden, sei schon lange vorhanden. Neu ist: sich auch nicht mehr verstanden zu fühlen. Das EU-Parlament hatte sich kürzlich dafür ausgesprochen, die Beitrittsverhandlungen einzufrieren. Seit dem Putschversuch im Juli erlebt das Land die Umwälzungen in größtmöglicher Verdichtung: Oppositionspolitiker und Regierungskritiker sitzen in Haft, Zehntausende haben ihren Job verloren, und viele sehen sich mit Terrorermittlungen konfrontiert.

Der Friedensprozess mit der PKK ist längst zum Erliegen gekommen, die Terrororganisation verübt wieder Anschläge im ganzen Land. Die Fanatiker des Islamischen Staates haben ebenfalls Gewalt in die Türkei getragen - kaum ein anderes europäisches Land hat so unter Blutvergießen zu leiden. Der Putschversuch vom Juli hat die innere Verfasstheit weiter geschwächt, weil seither der Verdacht im Raum steht, der gesamte Staatsapparat sei von Umstürzlern unterwandert - den Anhängern des Predigers Fethullah Gülen.

Şimşek stammt aus einfachen Verhältnissen, studierte Ökonomie, ging ins Ausland

In der Wirtschaft, die jahrelang mit Wachstumsraten von fast zehn Prozent imponieren konnte, machen sich Fragen breit: Wie geht es mit dem Land weiter? Was hat Erdoğan damit vor? Şimşek sagt, jedenfalls nicht das, was sich der Westen so düster ausmale. Während die Ratingagenturen mit Sorge verfolgen, wie Erdoğan mit einem Wechsel zum Präsidialsystem mehr Macht in seinen Händen bündeln will, sagt Şimşek, genau das sei die Lösung des Problems.

Stabilität werde wieder einkehren, wenn sich das Land in einem Referendum Erdoğans Willen fügt. Im März könnte das der Fall sein. Dann könnte die Türkei zu Wachstum und Wohlstand zurückkehren.

Auch andere Länder hätten Präsidialsysteme. Deren Qualität sei an der jeweiligen Ausgestaltung zu bemessen, an ihren Checks and Balances. Man möge sich bitte schön erst einmal anschauen, was Erdoğans Partei als Vorschlag präsentiere und sich nicht vorher schon darauf festlegen, dass es schlecht sein werde. Nebenbei erinnert er daran, dass das System wichtiger sei als die Person, die es einführen wolle. Es gebe auch ein Leben nach Erdoğan.

Seine Person zeigt immerhin, dass die Dinge nicht immer so einfach sind, wie viele sie vielleicht gerne hätten. Er arbeitet in herausragender Funktion für Erdoğans islamisch-konservative Partei AKP, der vorgeworfen wird, wie die PKK wieder zu der Eskalation des Kurdenkonfliktes beigetragen zu haben. 2015 war der von Erdoğan angeschobene Friedensprozess zusammengebrochen. Heute dominiert wieder das Blutvergießen. Şimşek sagt, die PKK trage mit ihrer Gewalt die Verantwortung für das Scheitern. Er selbst hätte sich gewünscht, dass es anders gekommen wäre.

Şimşek ist selber Kurde. Er glaubt an das friedliche Zusammenleben in der Türkei. 1967 wurde er in dem kurdischen Dorf Arica, in der südosttürkischen Provinz Batman, als jüngstes von neun Kindern in ärmlichste Verhältnisse geboren. Die zwölf Kilometer zur weiterführenden Schule ging er zu Fuß.

Er war begabt, bekam eine Zulassung zum Studium der Ökonomie an der Politikwissenschaftlichen Fakultät der Universität Ankara. Stipendien führten ihn ins Ausland. Er machte in der Finanzwelt Karriere, wurde bei der Bank Merrill Lynch Chefökonom für Europa, den Nahen Osten und Afrika, bevor er in die Politik wechselte. 2007 machte Erdoğan ihn zum Minister. Da war die Türkei noch ein anderes Land, bewundert für ihren Reformwillen. Die AKP war eine breite politische Bewegung, mit Anhängerschaft auch in den Kurdengebieten.

Als sich Şimşek am Dienstag mit den deutschen Journalisten zusammensetzt, erkundigt er sich zuerst, ob sie aus der Türkei schlau geworden seien.

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