Türkei:Vize-Premier setzt auf mehr Macht für Erdoğan

Recep Tayyip Erdogan

Stabilität werde wieder einkehren, wenn sich das Land in einem Referendum Erdoğans Willen fügt, glaubt Vize-Premier Şimşek.

(Foto: dpa)
  • Die türkische Regierung will, dass die Bevölkerung per Referendum über die Einführung eines Präsidialsystems entscheidet.
  • Wenn sich das Land in diesem Referendum Erdoğans Willen fügt, dann werde in der Türkei wieder Stabilität einkehren, sagt der türkische Vize-Premier Mehmet Şimşek.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Außer in den Reihen der Opposition gibt es momentan nicht mehr wirklich viele Europa-Anhänger in der Türkei. Einer hat sich aber gerade besonders verdient um das türkisch-europäische Verhältnis gemacht: Vize-Premier Mehmet Şimşek.

Als die regierungsnahe Zeitung Yeni Şafak die EU mal wieder vor dem Auseinanderbrechen sah, konterte Şimşek auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. "Die EU bricht nicht auseinander." Im Gegenteil: Sie sei eine Erfolgsgeschichte von einem Leben in Frieden und Wohlstand. Für seine Äußerungen sei er "fast gekreuzigt" worden, erzählt er später vor deutschen Journalisten in einem Istanbuler Hotel mit Bosporus-Blick.

Für einen Augenblick hatte der 49-Jährige einen Eindruck davon bekommen, was es bedeutet, mal nicht in das allgemeine EU-Untergangsgebrüll einzusteigen und ein wenig von der Regierungslinie abzuweichen. In Şimşek - den für Wirtschaftsfragen zuständigen Regierungsvize - hat Europa zumindest noch einen Ansprechpartner, der in der EU einen "Quell der Inspiration" sieht.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan ist der Meinung, die Türkei bräuchte Europa nicht. Şimşek sagt das Gegenteil. Ein Aufbegehren? Ein Konflikt? Eher: Arbeitsteilung.

Das Gefühl, nicht geliebt zu werden

Auch Erdoğan weiß, wie wichtig der Handel mit Europa für sein Land ist. Şimşek kann ohne Wut erklären, warum sich in der Türkei seit einiger Zeit aber ein Stimmungsmix aus Desillusion, Frust und Wut breitmacht, wenn es um die EU geht. Er sagt, er könne ja selbst nicht behaupten, die EU sei ein ehrlicher, prinzipientreuer Partner, schließlich befinde sich sein Land seit mehr als 50 Jahren im Warteraum zur EU.

Das Gefühlt, nicht geliebt zu werden, sei schon lange vorhanden. Neu ist: sich auch nicht mehr verstanden zu fühlen. Erst kürzlich hatte sich das EU-Parlament dafür ausgesprochen, die Beitrittsverhandlungen einzufrieren. Seit dem Putschversuch vom 15. Juli erlebt das Land die Umwälzungen in größtmöglicher Verdichtung: Oppositionspolitiker und Regierungskritiker sitzen in Haft, Zehntausende haben ihren Job verloren und viele sehen sich mit Terror-Ermittlungen konfrontiert.

Auch der Friedensprozess mit der PKK ist längst zum Erliegen gekommen, die Terrororganisation verübt wieder Anschläge im ganzen Land. Die Fanatiker des Islamischen Staates haben ebenfalls Gewalt in die Türkei getragen - kaum ein anderes europäisches Land hat so unter Blutvergießen zu leiden. Der Putschversuch vom Juli hat die innere Verfasstheit weiter geschwächt, weil seither der Verdacht im Raum steht, der gesamte Staatsapparat sei von Umstürzlern unterwandert - den Anhängern des Predigers Fethullah Gülen.

Das Präsidialsystem als Lösung des Problems

In der Wirtschaft, die jahrelang mit Wachstumsraten von fast zehn Prozent imponieren konnte, machen sich Fragen breit: Wie geht es mit dem Land weiter? Was hat Erdoğan vor?

Şimşek sagt, jedenfalls nicht das, was sich der Westen so düster ausmale. Während die Ratingagenturen mit Sorge verfolgen, wie Erdoğan mit einem Wechsel zum Präsidialsystem mehr Macht in seinen Händen bündeln will, sagt Şimşek, genau das sei die Lösung des Problems.

Stabilität werde wieder einkehren, wenn sich das Land in einem Referendum Erdoğans Willen fügt. Im März könnte das der Fall sein. Dann könnte die Türkei zu den "Werkseinstellungen" zurückkehren: Wachstum und Wohlstand wie in den Anfangsjahren der Erdoğan-Herrschaft.

Auch andere Länder hätten Präsidialsysteme. Deren Qualität sei an der jeweiligen Ausgestaltung zu bemessen, an deren Checks and Balances. Man möge sich bitteschön erst einmal anschauen, was Erdoğans Partei als Vorschlag präsentiere und sich nicht vorher schon darauf festlegen, dass es schlecht sein werde. Nebenbei erinnert er daran, dass das System wichtiger sei als die Person, die es einführen wolle. Es gebe auch ein Leben nach Erdoğan.

Heute dominiert wieder das Blutvergießen

Und die Wiedereinführung der Todesstrafe, über die Erdoğan so oft redet, weil das Volk sie bei seinen Auftritten verlangt? "Steht im Moment nicht auf der Tagesordnung", wiegelt Şimşek ab.

Seine Person zeigt immerhin, dass die Dinge nicht immer so einfach sind, wie viele das vielleicht gerne hätten. Er arbeitet in herausragender Funktion für jene Partei, Erdoğans islamisch-konservative AKP, der vorgeworfen wird, genauso wie die PKK wieder zu der Eskalation des Kurdenkonfliktes beigetragen zu haben.

2015 war der von Erdoğan angeschobene Friedensprozess zusammengebrochen. Heute dominiert wieder das Blutvergießen. Şimşek sagt, die PKK trage mit ihrer Gewalt die Verantwortung für das Scheitern. Er selbst hätte sich gewünscht, dass es anders gekommen wäre.

Şimşek ist Kurde. Er glaubt an das friedliche Zusammenleben in der Türkei. Er wurde 1967 in dem kurdischen Dorf Arica, in der südosttürkischen Provinz Batman, als jüngstes von neun Kindern in ärmlichsten Verhältnissen geboren. Die zwölf Kilometer zur weiterführenden Schule ging er zu Fuß.

Er war begabt, bekam eine Zulassung zum Studium der Ökonomie an der Politikwissenschaftlichen Fakultät der Universität Ankara. Stipendien führten ihn ins Ausland. Er machte in der Finanzwelt Karriere, wurde bei Merrill Lynch Chefökonomen für Europa, den Nahen Osten und Afrika, bevor er in die Politik wechselte.

2007 machte Erdoğan ihn zum Minister. Da war die Türkei noch ein anderes Land, bewundert für ihren Reformwillen. Und die AKP war eine breite politische Bewegung, mit Anhängerschaft auch in den Kurdengebieten.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: