Tierschutz:"Die Verbraucher wollen kein Leid mehr sehen"

Niedersachsens Agrarminister Gert Lindemann will das Leid in den Ställen beenden: Mit einem 38-Punkte-Plan soll der Schutz von Nutztieren bis 2018 schrittweise verbessert werden. Nur die Bauern muss er davon noch überzeugen.

Daniela Kuhr

Jeden Morgen gibt es diesen einen kritischen Moment. "Wenn die Sonne noch tief steht und nur einen schmalen Streifen Licht auf den Hallenboden wirft, werden die Tiere auf einmal unruhig", erzählt Christian Sürie, Leiter des Lehr- und Forschungsguts Ruthe. "Plötzlich rennen die Puter los. Jeder will sich einen Platz im Lichtkegel ergattern." Weil der Streifen aber zu schmal sei für alle, würden die Tiere aggressiv. "Im Extremfall beginnen sie, mit ihren scharfen Schnäbeln wild aufeinander einzuhacken und zu picken."

Lindemann sieht Tierschutzplan auf gutem Weg

Gut ein Jahr nach dem Start sieht der Landwirtschaftsminister den niedersächsischen Tierschutzplan auf einem guten Weg. Mit einem 38-Punkte-Plan will Lindemann den Schutz von Nutztieren bis 2018 schrittweise verbessern.

(Foto: dpa)

Sürie steht in einem Gang hoch oben über einer Putenmast-Halle des Forschungsguts, das zur Tierärztlichen Hochschule Hannover gehört. Links und rechts befinden sich Fenster, durch die man nach unten zu den Tieren sehen kann. Im Moment ist alles ruhig. Doch wenn sie aggressiv werden, kann es schlimmste Verletzungen geben, bis hin zum Tod. "Deshalb mussten wir uns etwas einfallen lassen", sagt Sürie und macht eine kurze Pause. "Wir achten jetzt sehr genau darauf, dass morgens die Vorhänge der Halle zu sind." Eine einfache Lösung. In diesem Fall funktioniert sie. Doch sind Vorhänge leider kein Allheilmittel.

Gert Lindemann, Niedersachsens Agrarminister, weiß das. "Was mich aber noch viel mehr frustriert", sagt der CDU-Politiker, nachdem er Sürie aufmerksam zugehört hat, "ist das, was mir Experten immer wieder mitteilen: Es kann alles gleich sein, die Luft, das Futter, der Platz, das Licht - bei drei Tests bleiben alle Tiere ruhig, beim vierten geht auf einmal die Pickerei los. Niemand weiß warum."Viele Bauern sind empört über den CDU-Mann.

"Von einem CDU-Mann haben wir das nicht erwartet"

Lindemann aber will eine Erklärung. Und er braucht sie auch. Denn er war es, der das Thema Tierschutz im vergangenen Jahr erstmals ganz oben auf die Agenda gesetzt hat. Im Februar 2011, Lindemann war noch keine fünf Wochen im Amt, hatte er einen Tierschutzplan vorgelegt, der bundesweit einmalig war - und vielen Bauern die Sprache verschlug: Zwölf Tierarten sind dort aufgelistet samt rund 40 problematische Maßnahmen, die in der Nutztierhaltung verbreitet sind, darunter das fast schon routinemäßige Schnabelkürzen bei Puten und Legehennen, das Wegbrennen der Hornansätze bei Kälbern und das Kastrieren von Ferkeln. All das geschieht häufig ohne Betäubung.

Umstritten sind diese schmerzhaften Maßnahmen schon lange. Doch Lindemann war der erste, der sie konkret auflistete und vor allem: mit einem Datum versah, bis zu dem sie überflüssig sein sollen. So soll bei Legehennen bis 2016, bei Puten bis 2018 auf das Kürzen der Schnäbel verzichtet werden. Inzwischen haben fast alle Bundesländer nachgezogen und ähnliche Ziele entwickelt. Manche Landwirte, die schon heute ihrer Tiere besser schützen als vom Gesetz vorgeschrieben, begrüßen das Vorhaben. Viele andere Bauern sind empört. Von einem Grünen hätten sie so etwas vielleicht erwartet, aber nicht von einem CDU-Mann."Die Verbraucher wollen keine Bilder mehr sehen von leidenden Tieren"

Fleischstandort Nummer eins

Lindemann, der von 2005 bis 2010 beamteter Staatssekretär im Bundeslandwirtschaftsministerium gewesen war, erst unter Horst Seehofer, dann unter Ilse Aigner (beide CSU), hatte sich eigentlich bereits in den Ruhestand verabschiedet. Doch dann stolperte Niedersachsens Agrarministerin Astrid Grotelüschen über Vorwürfe, eine Lobbyistin der Geflügelindustrie zu sein, und Ministerpräsident David McAllister brauchte einen Nachfolger: Lindemann musste ran. Nach kurzem Zögern nahm der damals 63-Jährige an und tat sofort kund, worin er seine vordringliche Aufgabe sah: im Tierschutz.

Niedersachsen ist Fleischstandort Nummer eins. In keinem anderen Bundesland spielt die Nutztierhaltung eine so große Rolle. "Die Verbraucher wollen keine Bilder mehr sehen von leidenden Tieren", sagt Lindemann. Schon aus eigenem Interesse müssten die Landwirte solche Zustände abstellen. "Andernfalls verlieren sie den Rückhalt in der Bevölkerung." Der Tierschutzplan war seine erste Amtshandlung. Seit Monaten laufen Untersuchungen und Praxistests, um herauszufinden, wie man die Probleme lösen kann.

Trotz Probleme soll der Tierschutzplan umgesetzt werden

Was das Schnabelkürzen anbelangt, gibt es derzeit elf Pilotbetriebe. Sie experimentieren beispielsweise mit dem Futter, da das gegenseitige Picken womöglich durch Eiweißmangel ausgelöst wird. Sie experimentieren aber auch mit Stall- und Gruppengrößen, Licht und Luft sowie mit Spielmöglichkeiten. "Bei neun Betrieben läuft es gut, bei zweien nicht", sagt Lindemann, der regelmäßig nach Ruthe fährt, wo nicht nur die Geflügelhaltung weiterentwickelt wird, sondern auch die Haltung von Rindern, Schweinen oder auch Enten.

Ein weiteres Thema, das die Forscher beschäftigt, ist das Enthornen der Kälber. Viele Landwirte machen es, um sich selbst zu schützen, aber auch, damit die Tiere sich nicht gegenseitig verletzen. Wenn die Kälber Glück haben, bekommen sie immerhin ein Schmerzmittel. Lindemann will es verbieten. "Nicht das Enthornen", betont er, "aber das Enthornen ohne Betäubung." Allerdings dürfen nur Tierärzte mit Betäubungsmitteln umgehen. Soll also der Bauer in Zukunft bei jedem Kalb den Tierarzt rufen? Das würde die Produktion sehr verteuern. "Wir haben noch keine Lösung", räumt Lindemann ein. "Genauso wenig wie für das Kastrieren der Ferkel oder das Kupieren der Ringelschwänze." Ersteres wird gemacht, damit die Schweine keinen Ebergeruch entwickeln, der das Fleisch ungenießbar macht. Letzteres, damit sich die Tiere nicht gegenseitig die Ringelschwänze abbeißen können.

"Ja, es muss sein"

Trotz der ungelösten Probleme: Lindemann ist entschlossen, seinen Tierschutzplan umzusetzen. Eben deshalb habe er ja jede Maßnahme mit einem anderen Zeithorizont versehen, "je nach Forschungsbedarf, den wir noch sehen". Tierschützern und auch manchem Grünen-Politiker geht das alles zu langsam. Lindemann schüttelt den Kopf. "Wenn wir beispielsweise das Kupieren der Schwänze einfach verbieten würden, ohne zu wissen, wie sich das gegenseitige Beißen verhindern lässt, würden wir ein Tierschutzproblem durch ein anderes ersetzen", sagt er. "Damit wäre nichts gewonnen."

Er weiß, dass es unter den Bauern immer noch eine heftige Diskussion darüber gibt, ob das wirklich alles sein muss. "Ich sage: Ja, es muss sein. Nur so wird es uns gelingen, dass die Nutztierhaltung gesellschaftlich wieder akzeptiert wird." Den Vorwurf, er nehme keine Rücksicht auf die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirte, weist er zurück. "Ich sehe, dass die anderen Bundesländer mitziehen, und ich sehen, dass auch in einigen EU-Ländern viel passiert." Wer sage, man könne Tierschutz nicht national regeln, sondern nur EU-weit, der wolle ihn womöglich gar nicht.

Die Tiere sind nur noch Produktionsmittel

Für viele Umwelt- und Tierschützer ist völlig klar, worin die derzeitigen Probleme begründet sind: in der Massentierhaltung. Sie habe zur Folge, dass in ganz Deutschland immer mehr Tiere auf engstem Raum dicht gedrängt zusammenstünden. Dass die Landwirte keinen Bezug mehr zu ihren Rindern, Schweinen und Hühnern hätten. Dass sie diese nur noch als Produktionsmittel betrachteten, aus denen man so viel Gewinn herauspressen müsse wie möglich. Doch Agrarwissenschaftler Sürie widerspricht. "So einfach ist es nicht", sagt er. "Das Tierwohl hängt nicht davon ab, ob jemand 100, 1000 oder 10 000 Tiere hält. Es hängt davon ab, wie ein Betrieb gemanagt wird, wie die Tiere beobachtet werden und wie groß die einzelnen Gruppen sind." Ein guter Landwirt könne jederzeit sehen, riechen und fühlen, ob es seinen Tieren gut gehe. "Ich kenne kleine Gruppen, in denen die Tiere aggressiv sind, und große, in denen es ruhig zugeht."

Sürie sieht jedoch ein anderes Problem. "Die Puten dort unten", sagt er und deutet durch ein Fenster in die Halle, "müssen in einem Mastgang, wie er heute üblich ist, ihr Körpergewicht innerhalb von 140 Tagen von 58 Gramm auf 21 Kilogramm steigern. Das ist etwa so, wie wenn wir von einem Säugling erwarten würden, dass er nach acht Wochen ausgewachsen ist." Das müsse man sich klarmachen, um zu verstehen, unter welchem enormen Leistungsdruck die Tiere stünden. Stress aber ist seit jeher einer der Hauptfaktoren, die als Auslöser für Aggressionen gelten.

Gesellschaft kann es sich leisten, nachzudenken

Auch Lindemann sieht darin einen wichtigen Punkt. "In der Züchtung hat man sich lange nur darauf konzentriert, die Leistung der Tiere zu steigern. Das hat erheblich zu unseren heutigen Problemen beigetragen." Er hofft, dass die Wirtschaft erkennt, wie wichtig es ist, auch wieder auf andere Merkmale zu achten: auf die Stabilität des Skeletts, die Gesundheit der Fußballen, die Stressresistenz. "Wir brauchen robuste Tiere, die nicht für jeden Keim anfällig sind und sich auch nicht so leicht aus der Ruhe bringen lassen."

Sürie kann sich noch gut erinnern, wie er als Kind auf dem Hof des Vaters zum ersten Mal ein Ferkel kastrieren musste. Mit dem Taschenmesser. Das Tier habe fürchterlich geschrien. "Damals hat man das nicht in Frage gestellt, man hat es einfach gemacht." Er ist froh, "dass wir heute in einer Gesellschaft leben, in der wir uns leisten können, über so etwas nachzudenken".

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