Tarifverhandlungen:"Streiks gehören zu einer Demokratie"

Deutschland legt die Arbeit nieder: Beschäftigte im öffentlichen Dienst und Mitarbeiter an den Flughäfen streikten zuletzt, jetzt folgen die Piloten. Arbeitsmarkt-Experte Peter Grottian von der FU Berlin erklärt im Interview, wann ein Streik klug ist - und wem er nützt.

Von Nakissa Salavati

Wächst in Deutschland wieder die Lust auf Streik? Und welche Pläne verfolgen die Gewerkschaften derzeit? Peter Grottian, Politikwissenschafter an der Freien Universität Berlin, hat sich mit den Strategien der Gewerkschaften auseinandergesetzt.

Herr Grottian, derzeit wird vielerorts wieder gestreikt. Das letzte Jahrzehnt über schienen die Gewerkschaften sich trotz einiger Aufsehen erregender Ausnahmen eher zurückhaltend zu verhalten. Stehen die Zeichen wieder auf Krawall?

Peter Grottian: Das sieht oberflächlich so aus, stimmt. Aber es gehört zum Handwerk der Gewerkschaften, Druck aufzubauen. Man sieht gerade bei den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst: Verdi-Chef Bsirske nutzt am Anfang, wenn die Arbeitgeber keinen wirklichen Vorschlag gemacht haben, schnell Warnstreiks als Mittel, um rasch zu echten Verhandlungen zu kommen - ein normales Tarifritual.

Zahlt es sich aus, in einem so frühen Stadium schon zu streiken?

Lange Streiks sind in Deutschland nicht populär. Die Strategie der Gewerkschaft ist also gut zu verstehen: Schnell Druck aufbauen, um schnell zu einem Ergebnis zu kommen. Streiks nützen zugleich den Gewerkschaften. Verdi handelt so offensiv, weil die Basis es fordert.

Um nicht schwach zu wirken?

Der Vorwurf vieler Gewerkschaftler lautet oft, die Führung sei lahmfüßig und nicht konfliktbereit genug. Mit der Konfliktstrategie sind die Gewerkschaften tatsächlich erfolgreich, viele konnten ihren Mitgliederschwund stoppen.

Die Gegenseite, die Arbeitgeber, würde jetzt sagen: Es geht auch konfliktfrei ...

Diese Rhetorik gehört zum traditionellen Geklingel der Verhandlungen dazu. Die Arbeitgeber sind an Provokationen gewöhnt, die tatsächliche Aufregung hält sich in Grenzen: Ich glaube, zwischen den Verhandlungsführern sind längst erste Drähte zur Frage gesponnen, zu welchem Abschluss sie kommen.

Aber es gibt doch auch Beispiele, wie es ohne Streik geht.

Stimmt, Bankangestellte sieht man selten auf der Straße. Verhandlungen laufen in dieser Branche verschwiegener und diskreter, öffentlicher Krawall bleibt aus. Gewerkschaften schauen sehr genau, wer wirksam streiken kann - zum Beispiel Müllmänner, soziale Dienstleister wie Pfleger oder Erzieher. Bleibt der Müll auf der Straße liegen oder schließen Kitas, sind das sehr eindrückliche Bilder. Diese Berufe stehen außerdem für das hohe Gut des öffentlichen Dienstes, von denen die Bürger überzeugt sind, dass sie der Gesellschaft helfen. Es ist bei einem Streik wichtig, glaubwürdig zu vermitteln, dass es um öffentliche und nicht nur um individuelle Interessen geht.

Gelingt die glaubwürdige Vermittlung? Viele ärgern sich doch sehr, wenn beispielsweise ihr Flug nicht geht.

Es ist verständlich, sich über Streiks zu ärgern, aber ich glaube, das machen nur wenige. Grundsätzlich ist die deutsche Bevölkerung gelassen. Es gibt eine Grundüberzeugung, dass Streik zu einer Demokratie gehört. Man kann in den USA oder Großbritannien gut beobachten, wie es um Rechte der Beschäftigten bestellt ist, wenn Gewerkschaften schwach sind - nämlich relativ schlecht.

Wie sinnvoll sind eigentlich die Forderungen?

Verdi fordert im öffentlichen Dienst neben einer Lohnerhöhung von 3,5 Prozent einen monatlichen Festbetrag von 100 Euro - ein Blumenstrauß für Geringverdiener. Schließlich bedeutet die Summe für sie vergleichsweise mehr als für jemanden, der bereits gut verdient. Das ist gerecht, wie ich finde: Deutschland hat sich einen Niedriglohnsektor geleistet, um relativ billig Produktion und Dienstleistung anbieten zu können. Die Löhne sind in den vergangenen 15 Jahren kaum gestiegen. Dass es Deutschland so gut geht, haben wir also auch auf dem Rücken derjenigen ausgetragen, die jahrelang nicht mehr verdient haben.

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