SZ-Streitgespräch:"Die Profite explodieren, die Armen verlieren"

Eine Aktivistin und ein Ökonom diskutieren über Chancen und Risiken der Globalisierung.

(SZ vom 29.9.) - Schafft die Globalisierung mehr Wohlstand für alle, die sich auf freie Märkte einlassen? Oder führt die rasante Verflechtung der Welt zu Armut, Umweltzerstörung und Terrorismus? Die Aktivistin Susan George und der Ökonom Carl Christian von Weizsäcker streiten sich über US-Vorstandsgehälter, Arbeitslose in Shanghai und den Wunsch nach einem Auto für jeden Inder.

SZ: Frau George, was stört Sie am global expandierenden Kapitalismus?

George: Die Gehälter der US-Arbeiter sind von 1990 bis 2000 um 37 Prozent gestiegen, die der Bosse um 571 Prozent. Hätten die Arbeiter so einen Zuwachs, verdienten sie 250000 DM im Jahr statt wie heute 50000 DM. Viele bekommen nur den Mindestlohn, der keinen satt macht. Die Globalisierung braucht neue Regeln, sonst gewinnen nur die Reichen.

Weizsäcker: Sie haben Recht, amerikanische Bosse verdienen zu viel. Aber das ist ein unwichtiges Detail. Ich würde sagen, alle Deutschen profitieren von den heutigen Regeln der Marktwirtschaft.

Ohne Freihandel und freien Kapitalverkehr wäre der Lebensstandard nur ein Drittel so hoch wie heute. Die meisten Deutschen sind hochqualifiziert, also erzielen sie weit höhere Löhne als bei einem System, das Renditen staatlich begrenzt und den Faktor Arbeit abschottet.

So ein System würde weltweit die Investitionen und die Verkaufschancen deutscher Maschinen und Autos reduzieren. Qualifizierte Arbeiter hätten viel geringere Verhandlungsmacht als heute, hohe Löhne durchzusetzen. Ich habe eine kleine Firma in München. Wir suchen seit Jahren qualifiziertes Personal.

George: Die deutschen Arbeiter verdanken ihren hohen Lebensstandard doch nicht der Globalisierung, sondern ihrem Kampf um höhere Löhne...

Weizsäcker: ...nein, der Qualifikation.

George: Na gut, auch der, aber vor allem dem Kampf. Das Kapital gibt doch freiwillig nichts her.

SZ: Wie erklären Sie die amerikanischen Einkommensunterschiede, Herr von Weizsäcker?

Weizsäcker: Die USA sind das, was wir bald sein werden: ein Einwanderungsland. Es wird anders als bei uns viel niedrig qualifizierte Arbeit erledigt. Deshalb sind die Löhne dort niedriger.

SZ: Finden Sie das gerecht?

Weizsäcker: Es stimmt, dass Kapital und hochqualifizierte Arbeitnehmer von der Globalisierung am meisten profitieren. Sie können auf billige Arbeitskraft überall auf der Welt zurückgreifen und so die Rendite ihrer Investments oder ihres Arbeitseinsatzes erhöhen. Davon profitiert dann aber die ganze Bevölkerung, denn diese Einkommen bescheren dem Staat hohe Steuereinnahmen, aus denen er viele Leistungen finanzieren kann.

George: Die Konzerne zahlen doch immer weniger Steuern. Die New York Times nannte neulich 30 große Firmen, die mehrere Jahre nichts zahlten. Ich war entsetzt, als DaimlerChrysler damals keine einzige DM ablieferte.

Weizsäcker: Das war nur ein Jahr.

George: Hören Sie auf, eine reiche Firma wie Daimler!

Weizsäcker: Aber die erzielten in dem Jahr eben keinen Gewinn.

George: Sie wissen doch genau, wie internationale Konzerne ihre Gewinne verstecken können. Laut Economist stellten die US-Unternehmenssteuern nach dem Zweiten Weltkrieg noch ein Drittel des Steueraufkommens. Heute sind es nur zwölf Prozent.

Weizsäcker: Früher waren die Löhne so niedrig, dass sie kaum besteuert wurden. Deshalb machen Unternehmenssteuern heute einen geringeren Anteil aus.

SZ: Wie wirkt sich die Globalisierung auf die Dritte Welt aus?

George: Das sehen Sie doch. Die Hälfte der Erdbevölkerung lebt von weniger als zwei Dollar am Tag. Ich bin nicht gegen den Markt, er bringt viel Nützliches hervor. Aber er braucht neue Regeln. Heute explodieren die Profite, während die Armen verlieren.

Weizsäcker: In den Industriestaaten sammeln die Firmen das Kapital für ihr Wachstum bei Anlegern ein. In der Dritten Welt mit ihren unterentwickelten Kapitalmärkten sind - mit Ausnahme von Kapitalimporten - Profite die einzige Finanzquelle. Ein chinesischer Unternehmer finanziert seine Investitionen durch hohe Profite.

Um Wachstum zu erzeugen, ist also vorübergehend ein höheres Maß an Ungleichheit nötig. Die chinesische Regierung hat das verstanden. Ihre Reformpolitik führt zu einem jährlichen Wachstum von acht bis zehn Prozent, der Lebensstandard steigt. Einem Arbeitslosen in Shanghai geht es heute viel besser als einem Arbeiter unter Mao.

George: Ich bin froh, dass Sie ausgerechnet dieses Beispiel wählen. China unterdrückt seine Arbeiter. Die Unternehmen bezahlen 50 Pfennig in der Stunde. Fünf Millionen Gefangene schuften im Gulag. Mindestens 150 Millionen Chinesen sind arbeitslos. Vielleicht wären Sie gern Manager in China. Aber Sie möchten dort bestimmt kein Arbeiter sein.

Weizsäcker: Der wahre Grund für den chinesischen Boom ist, dass das Land die Disziplinierung durch den Weltmarkt akzeptiert. Um im weltweiten Wettbewerb zu bestehen, müssen Sie ihre Waren pünktlich und in guter Qualität liefern. Wer sich auf Exporte verlegt, macht also seine Wirtschaft effizienter. Der Weltmarkt ist die Maschine, durch die ein Land wirtschaftlich wachsen und einen höheren Wohlstand erreichen kann.

George: Der Vorteil Chinas ist nicht nur seine Effizienz, sondern auch die Unterdrückung seiner Arbeiter: Keine Gewerkschaften, Sonntagsarbeit, Gefängnis für Demonstranten. Das alte Argument Ricardos vom komparativen Kostenvorteil, der zu einer Spezialisierung jedes Landes auf bestimmte Güter und dadurch zu mehr Wohlstand für die ganze Welt führt, ist heute inakzeptabel.

Denn Ricardo hat sein Argument für eine Welt ohne freien Kapitalverkehr entwickelt. Heute hat jenes Land den größten Vorteil, das seine Arbeiter am meisten unterdrückt, um dem frei strömenden Kapital die besten Bedingungen zu bieten.

Weizsäcker: Ich glaube nicht, dass der chinesische Erfolg vor allem an der Unterdrückung liegt. Mir sagen meine vielen chinesischen Studenten...

George: ...wahrscheinlich alles Parteimitglieder?

Weizsäcker: Es gibt eine breite Mittelschicht, das sind nicht nur Parteimitglieder. Auf jeden Fall sind die Freiheiten heute größer als zu Maos Zeiten. Und es hungert niemand mehr.

SZ: Andere asiatische Staaten scheinen seit der Krise 1997 nur schwer auf die Beine zu kommen.

George: Und das liegt an der Weltbank und am Internationalem Währungsfonds! Deren Medizin für die Dritte Welt sind hohe Zinsen, weniger Staatsausgaben, mehr Exporte und so weniger Nahrungsmittelproduktion für das eigene Land.

Die armen Staaten haben sich auf die selben Exportprodukte konzentriert und deshalb sind die Preise eingebrochen, um 25 Prozent in drei Jahren. Die Asienkrise hat Millionen Arbeitsplätze gekostet. Es gibt keinen einzigen Erfolg der IWF-Politik. Die erfolgreichen Staaten haben sich dem IWF widersetzt und Kapitalkontrollen eingeführt wie Taiwan oder Südkorea.

Weizsäcker: IWF und Weltbank machen manches falsch. Mein sehr guter Freund, der ehemalige Weltbank-Chefökonom Joe Stiglitz...

George: ...einer meiner persönlichen Helden...

Weizsäcker: Also Joe Stiglitz hat einige Fehler aufgezeigt.

George: Nicht so zaghaft! Darf ich Ihren Freund mal zitieren? "Die Liberalisierung der Kapitalmärkte hat den Menschen nicht nur nicht den versprochenen Wohlstand gebracht, sondern sie hat zu Krisen mit sinkenden Löhnen und steigenden Arbeitslosenraten geführt."

SZ: Was schlagen Sie vor?

George: Eine neue Politik von IWF und Weltbank, gerade nach den Terror-Attacken auf New York. Wir müssen unabhängiger von arabischem Öl werden und deshalb ein Crash-Programm für Erneuerbare Energien auflegen. Außerdem wäre ich für ein keynesianisches Ausgabenprogramm, um das perverse Wohlstandsgefälle zwischen Arm und Reich zu reduzieren.

Heute sind drei amerikanische Milliardäre reicher als 46 Staaten zusammen. Dieses Gefälle führt zu Hoffnungslosigkeit, die eine der Brutstätten des Terrors ist. Ohne ein solches Crash-Programm für nicht mehr als 400 Milliarden DM fürchte ich einen ökonomischen und ökologischen Kollaps, wie ich es in meinem Buch beschrieben habe - ich weiß nicht, ob Sie es gelesen haben.

Weizsäcker: Ich finde Ihr Programm gar nicht falsch, aber wie setzen wir es durch? Wir sollten auf bewährte Rezepte wie Investitionen in der Dritten Welt zurückgreifen. In Mexiko wollen alle bei VW arbeiten, weil VW höhere Löhne zahlt als einheimische Firmen.

SZ: Was haben Sie gegen solche Mechanismen, Frau George?

George: Ich habe grundsätzlich nichts gegen Investitionen und freien Handel. Aber seit ich die Regeln der Welthandelsorganisation WTO studiert habe, halte ich die WTO für die größte Bedrohung der Demokratie. Sie erleichtert nicht einfach den Handel, sie verlangt, dass alle Bereiche eines Staats zu Märkten werden.

Ein Staat kann gezwungen werden, seine Leistungen zu privatisieren. Darauf haben die Konzerne nur gewartet. Der europäische Gesundheitsmarkt ist sechs Billionen DM schwer, der Bildungsmarkt vier Billionen. Die Konzerne wittern ein riesiges Geschäft. Verlierer wären die Bürger.

Weizsäcker: Wenn die WTO-Regeln wirklich solche Folgen haben können, sollten wir sie ändern. Aber es ist doch oft anders herum. Es gibt viele nationale Regeln, die nur die ausländische Konkurrenz diskriminieren sollen, zum Nachteil des Wettbewerbs und der Menschen. SZ: Manchmal wirkt die globale Kooperation sehr einseitig. Die Industriestaaten bemühen sich stärker um Freihandel als um Klimaschutz.

Weizsäcker: Es gibt Defizite im Umweltschutz, aber diese haben wenig mit der Globalisierung zu tun. Schauen Sie sich die Umweltsünden des abgeschotteten kommunistischen Ostblocks an.

SZ: Wird der Planet das Wachstum, das die Globalisierung erzeugt, ökologisch verkraften?

Weizsäcker: Wollen Sie den Indern sagen: Ihr müsst arm bleiben, damit das Weltklima gerettet wird? Das wird nicht klappen. Der reiche Westen muss sich zu zuerst um Klimaschutz kümmern. Ich weiß nicht, ob Sie mein Buch gelesen haben, aber dort sage ich, dass Wachstum auch positive Effekte auf die Umwelt hat.

Je höher das Wachstum und somit der Lebensstandard, desto niedriger die Geburtenrate - das hilft der Umwelt direkt. Außerdem führt ein höherer Lebensstandard dazu, dass sich die Leute mit der Umwelt beschäftigen. Vorher versuchen sie erstmal, ihre Grundbedürfnisse wie Essen oder Wohnen zu befriedigen.

George: Wenn jeder Inder ein Auto fährt, überlebt unser Planet dies nicht. Es sei denn, wir entwickeln schnell bessere Technologien. Deshalb schlage ich ja mein Crash-Programm für Erneuerbare Energien und Anderes vor, finanziert durch eine Tobin-Steuer auf Devisengeschäfte. Die würde gleichzeitig verhindern, dass Spekulanten Währungen und deren Staaten in die Knie zwingen wie bei der Asien-Krise.

Weizsäcker: Natürlich können Sie irgendwelche Steuern erheben, um Einnahmen zu haben. Aber diese Steuer ist unsinnig. Was machen Banken den ganzen Tag? Sie kaufen, wenn der Dollar fällt, und sie verkaufen, wenn er steigt. So stabilisieren sie die Währung. Eine Steuer würde also die Märkte destabilisieren.

Wenn Mexiko in eine Krise rutscht, fällt der Peso, das stimmt. Aber er fällt sowieso, weil die Kursentwicklung fundamentale Ursachen hat, etwa schlechte Wirtschaftspolitik. Die Steuer ändert daran nichts. Die meisten Transaktionen auf dem Kapitalmarkt sind nicht spekulativ, sie sichern Risiken ab.

George: Solche Absicherungsgeschäfte etwa für den Kauf einer Maschine in der Zukunft machen doch nur zwei Prozent der Devisengeschäfte aus.

Weizsäcker: Sie verstehen nicht, wie Märkte funktionieren. Diese Anleger leisten genau das, was Tobin mit seiner Steuer erreichen will. Sie dämpfen die Wechselkursschwankungen, indem sie billig kaufen und teurer verkaufen.

George: Man könnte ja Geschäfte in einer bestimmten erwünschten Wechselkursspanne niedrig besteuern und erst außerhalb dieser Spanne richtig zuschlagen. Auf jeden Fall sind die Devisengeschäfte explodiert, ohne dass der Güterhandel vergleichbar zugenommen hat. Früher lagen sie bei 170 Milliarden DM am Tag, heute bei drei Billionen. Wieso?

Weizsäcker: Computer und Telekommunikation sind sehr billig geworden, das erleichtert die Geschäfte. Entscheidend ist: Die Währungen schwanken seit der Zunahme der Finanztransaktionen nicht stärker, im Gegenteil.

George: Es wäre doch leichter, einfach zu festen Wechselkursen zurückzukehren wie vor 1972.

Weizsäcker: Der Euro ist ein institutionalisierter fester Wechselkurs.

George: Ich bin auch für den Euro. Da sind wir ausnahmsweise mal einig.

Das Gespräch moderierten Nina Bovensiepen und Alexander Hagelüken

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