25 Jahre nach der Wende:Schwieriges Erbe

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2010 musste die Statue von Karl Marx in Berlin dem U-Bahn-Bau weichen. Aus den Universitäten wurde er schon früher - und auf Dauer - verbannt.

(Foto: Johannes Eisele/AFP)

Als die DDR zusammenbrach, mussten die Universitäten in Ostdeutschland Abschied von Karl Marx und sozialistischer BWL nehmen. Gar nicht so einfach.

Von Felicitas Wilke

Ein Mediziner war schon immer ein Mediziner, im Osten wie im Westen. Mit einer Chemikerin verhält es sich nicht anders. Entschied man sich in der früheren DDR aber für ein Wirtschaftsstudium, dann standen zum Teil völlig andere Inhalte auf dem Lehrplan als im Westen. Sozialistische Leitungslehre braucht im Kapitalismus kein Mensch.

Als Deutschland wieder eins wurde, war mit einem Schlag vieles von dem, was an den ostdeutschen Universitäten gelehrt wurde, überholt. Die Wirtschaftslehre im Osten musste umgekrempelt werden, Dutzende Professoren aus dem gesamten deutschsprachigen Raum halfen dabei - nicht immer mit Erfolg: Die Wende kannte auch an den Hochschulen Gewinner und Verlierer. Das zeigt eine Reise nach Chemnitz.

"Damals schien alles möglich"

Joachim Käschel sitzt an einem Besprechungstisch in seinem Büro auf dem Campus der Technischen Universität Chemnitz. Im kommenden Jahr wird der Professor für Produktionswirtschaft in den Ruhestand gehen, aber noch türmen sich im Zimmer zu korrigierende Abschlussarbeiten und Praktikumsberichte. Käschel ist auch heute noch gern Hochschullehrer, aber die schönste Zeit an der Uni erlebte er Anfang der Neunzigerjahre. "Damals schien alles möglich, wir konnten was gestalten", sagt er. Genau das ging für den heute 64-Jährigen lange Zeit nicht.

Er studierte im damaligen Karl-Marx-Stadt Mathematik. Noch vor der Wende begann Käschel, sich mit den Schnittstellen von Mathematik und Wirtschaftswissenschaften zu befassen, forschte in Sachen Optimierung und Produktionslehre. Über eine Stelle als wissenschaftlicher Assistent kam er zu DDR-Zeiten nicht hinaus. Als ihn sein Chef für eine Auszeichnung vorschlug, lehnte das zuständige Ministerium ab. Er habe wohl "14 Gramm zu wenig" auf die Waage gebracht, vermutet Käschel und lächelt. 14 Gramm, so viel wog das SED-Parteiabzeichen.

Was fängt man mit sozialistischer BWL an?

Dann kam die Wende, mit ihr die Freiheit - und die Ungewissheit, was aus der Lehre werden sollte. 700 Studierende waren um 1990 im Fach Ingenieursökonomie eingeschrieben, einer DDR-Disziplin, die auch Wissen im Maschinenbau vermittelte. Ein Jahrgang stand unmittelbar vor dem Examen, als das alte System zusammenbrach. Es war klar: Mit sozialistischer BWL und marxistisch-leninistischer Theorie würden die Studenten auf einem gesamtdeutschen Arbeitsmarkt kaum eine Chance haben.

Käschel zieht aus einem Ordner ein Heft heraus. Es ist ein Vorlesungsverzeichnis aus der frühen Nachwendezeit. Darin finden sich Namen von Professoren und Dozenten aus ganz Deutschland, aus Wien und St. Gallen. "Die wollten was bewegen", sagt Käschel. Peter Rütger Wossidlo war einer von ihnen. Als als er kurz vor Weihnachten 1990 vom damaligen sächsischen Kultusminister angerufen wurde, lehrte er Finanzwirtschaft in Bayreuth. Der Minister bat ihn, die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät in Chemnitz fit für das neue System zu machen. Wossidlo zögerte nicht. "Es war eine Entscheidung aus dem Innersten heraus", sagt er.

Crash-Kurse in West-Wirtschaft

Der Hochschullehrer heuerte Kollegen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz an, die von 1990 an Woche für Woche nach Chemnitz fuhren. Für Studenten, die kurz vor dem Abschluss standen, organisierten sie Crashkurse in Sachen West-Wirtschaft. Wo vor kurzem noch gelehrt wurde, wie man im Sozialismus ein Kollektiv führt, stand jetzt die Mitarbeitermotivation auf dem Lehrplan. Vorlesungen wie Geld und Kredit ersetzten die politische Ökonomie.

Die Studenten der jüngeren Semester durften auf ein BWL-Studium nach westdeutschem Vorbild umsteigen. Sie schrieben die gleichen Klausuren wie im Westen, damit "jeder Discount-Verdacht in Chemnitz substanzlos" ist, wie es Wossidlo 1991 in einem Rechenschaftsbericht schrieb. Was trieb Wossidlo und die anderen West-Kollegen an? Wohl kaum die 30 Pfennig Kilometergeld, die es anfangs gab.

Nicht alle teilten die Euphorie

Es war die Euphorie der Wiedervereinigung, und "der Wunsch, den Studenten eine Perspektive zu bieten", sagt Wossidlo. Andere Professoren, die damals dabei waren, bestätigen das. Die Euphorie teilten in Chemnitz nicht alle. "Einige Professoren an der TU haben mich anfangs misstrauisch beäugt", blickt er zurück. Bei vielen Chemnitzern herrschte aber auch Aufbruchsstimmung.

Für die Studierenden und die ostdeutschen Hochschullehrer änderte sich 1990 alles. Ein vom Ministerium in Dresden bestimmter Personalausschuss, der aus nicht vorbelasteten TU-Mitarbeitern bestand, durchleuchtete nach der Wende der Reihe nach die Vergangenheit aller Angestellten. Professoren, die besonders systemnah waren, mussten gleich ihren Platz räumen. Andere gingen von selbst und freundeten sich als Unternehmensberater mit dem Kapitalismus an. Ein Teil durfte bleiben, darunter auch Joachim Käschel.

Als Anfang der Neunziger die Gastprofessoren Schritt für Schritt abzogen und die Stellen neu besetzt wurden, bewarb er sich - mit Erfolg. Wenige Monate später leitete er einen Lehrstuhl. Käschel ist ein Wendegewinner. Er kennt aber auch Fälle von Kollegen, die vor dem beruflichen Nichts standen. "Es gab menschliche Tragödien", sagt er. "Nicht jeder, der zur SED gehörte, war schlecht." Er meint damit Leute wie Wolfgang Opitz.

"Ich habe mich angepasst, man lebte eben hier"

Opitz hat zum Kaffee in sein Haus in Chemnitz geladen, es liegt nur wenige Kilometer von der TU entfernt. Der 85-Jährige hat auf einem Teller Butterkekse drapiert, daneben liegt ein Buch, in dem er seine Erinnerungen an die Wendezeit aufgeschrieben hat. Doch er braucht die Gedankenstütze nicht, so detailliert wie er erzählt. Opitz hat in der DDR Karriere gemacht.

Der promovierte Ökonom startete als Berufsschullehrer, später wurde er unter anderem Technischer Direktor des Industrieverbands für Automobilbau. Opitz war SED-Mitglied, nicht parteiergeben, wie er sagt, aber auch kein Rebell. "Ich habe mich angepasst, man lebte eben hier", erklärt er. Gute Arbeit zu verrichten, das habe für ihn immer im Vordergrund gestanden.

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Der Professor arbeitete sich in die westdeutsche BWL ein

Um das Jahr 1980 wechselte der einstige Lehrer von der Industrie an die Hochschule. "Ich wollte wieder was mit jungen Leuten machen", erzählt er. Opitz wurde Professor für sozialistische BWL in Zwickau. Als er dort Ende der Achtzigerjahre Rektor werden sollte, sprach die Parteiführung ihr Veto aus: "Es hieß, dass mein gesellschaftliches Engagement für einen solchen Posten nicht immer ausreichend war", erinnert sich Opitz. Er folgte einem Ruf aus Karl-Marx-Stadt, wo er an der TU Professor und kurz darauf Sektionsleiter für Wirtschaftswissenschaften wurde. Heute nennt man das Dekan.

Vom Hochschullehrer zum Lagerarbeiter

Als die Mauer fiel, durfte Opitz zunächst an der Universität bleiben und baute gemeinsam mit Wossidlo die Studiengänge um. Zugleich arbeitete sich Opitz in die westdeutsche BWL ein. "Er war einfach ein guter Mann", sagt Wossidlo über Opitz. "Er war fleißig und sehr dynamisch", sagt Opitz über Wossidlo. Die beiden telefonieren noch heute regelmäßig.

Dann untersuchte der Personalausschuss auch Opitz' Vergangenheit. Mitte des Jahres 1992 sprach sich die Kommission dagegen aus, ihn weiter als Hochschullehrer zu beschäftigen. In der Begründung hieß es, er sei "systemtreu" gewesen. Er, der vorher nicht Rektor werden durfte. Wossidlo, der gerne weiter mit Opitz zusammengearbeitet hätte, ließ die Berichte daraufhin von einem ehemaligen Verfassungsrichter prüfen: "Nach unserem Recht wären sie eigentlich nicht justiziabel gewesen", sagt er.

Opitz, damals Anfang 60, tauschte die Universität gegen einen Job in einem Metro-Warenlager. Dort bestückte er die Regale mit Ferrero-Süßigkeiten. Nach einigen Monaten erhielt er eine Stelle als Dozent in einer Weiterbildungseinrichtung, wo er bis zu seiner Pensionierung 1995 arbeitete. Wolfgang Opitz wirkt nicht verbittert, wenn er von der Wendezeit erzählt. "Ich habe damals prächtige Leute kennengelernt", sagt er.

Anerkennung für die gute Arbeit gibt es nicht

Nur manchmal, wenn er an die gute Arbeit zurückdenkt, die er und andere in diesem anderen Land verrichteten, vermisst er die Anerkennung. Die Uni musste er verlassen, die Industriebetriebe, die er leitete, gibt es nicht mehr. "Dass die Lebensleistung mancher untergeht, das finde ich schon ein bisschen tragisch."

Vor zwei Jahren feierte die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät in Chemnitz ihr 20-jähriges Bestehen. Ein Viertel der 12 000 TU-Studenten ist heute in einem ökonomischen Fach eingeschrieben, die Studiengänge stehen in Hochschulrankings gut da. Die Geschichte der Fakultät ist eine Erfolgsgeschichte, an der viele Menschen ihren Anteil hatten. Wendegewinner und Wendeverlierer.

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