SZ-Serie: 25 Jahre Wirtschafts- und Währungsunion:Verlierer der Einheit

Erst rückte die geografische Mitte Deutschlands über Nacht von der Peripherie ins Zentrum. In Rotenburg an der Fulda und Bebra hofften sie auf einen Boom. Doch der kam nie.

Von Katja Riedel, Rotenburg an der Fulda

Alles fing an mit Vera. Plötzlich war sie da, ein bisschen blass und mit einem neon-rosa Strickpulli, mit verwaschenen Jeans, vor allem aber mit einer seltsamen Geschichte. Und die ging so: "Die haben uns rausgeschmissen", sagte die Neue zu den anderen Viertklässlern in der kleinen hessischen Stadt. Die Eltern, die in Leipzig auf die Straße gegangen waren, seien erst verhaftet worden. Dann seien Mama, Papa und Vera über die Grenze geschickt worden, in den Westen, einfach so. Nur der Wellensittich, der musste drüben bleiben: In diesem fremden Land, von dem die Grundschulkinder aus dem Westen etwa ein Jahr vor der Grenzöffnung nur wussten, dass man dort nicht einfach so in den Urlaub fahren durfte. Dass man nicht raus konnte, ein bisschen so wie der verlassene Sittich in seinem Käfig.

Vera war viel besser in Mathe und Turnen als die West-Kinder, welche die Grenze, den braunen Acker und die grauen Wachtürme ebenfalls gut kannten, wenn auch von der anderen Seite des Zaunes. Den zeigten die Menschen Besuchern so wie sie anderswo mittelalterliche Burgen herzeigen oder Denkmäler. Im Zonenrandgebiet, ging man sonntags Grenze gucken.

Als Vera plötzlich da war, wussten die Bewohner des Zonenrandgebietes noch nicht, dass es diese Grenze bald nicht mehr geben würde. Dass sie dort, wo jetzt noch Draht und Grenzanlagen waren, bald ein großes Loch in den Zaun schneiden würden, durch das all die hellblauen und froschgrünen kleinen Autos fahren würden. Sie veränderten den Geruch der Stadt, eines kleinen hessischen Luftkurorts namens Rotenburg an der Fulda, über Nacht.

Die Stadt durchzogen nun Schwaden eines beißenden, blauen Dunsts, der aus tausenden Auspuffen quoll, die über die früher ausgestorbenen Straßen rollten. Alle waren an einem Sonntag im November 1989 zu dem neuen Loch zwischen den einst geteilten Dörfern Obersuhl und Untersuhl gefahren. Die Erwachsenen weinten, klopften auf die Plastikdächer der bunten Autos, umarmten all die seltsam gekleideten Menschen.

Sie freuten sich nicht nur über das Wiedersehen mit den Deutschen von der anderen Seite; sie verbanden mit der Wiedervereinigung die große Zuversicht, dass das Leben in der Kleinstadt, die gerade einmal 20 Kilometer von der Grenze entfernt lag, sich nun verändern würde. Wie sehr, mit welcher Dauer? Das fragten vor allem Lokalpolitiker und all die anderen Erwachsenen in dem 40 Kilometer breiten Streifen entlang der Grenze zur ehemaligen DDR. Immerhin 30 Kreise und kreisfreie Städte der damaligen Bundesrepublik gehörten zu dieser Sonderzone - einem Problemgebiet, das seit 1971 als solches erkannt und darum besonders gefördert wurde.

SZ-Serie: 25 Jahre Wirtschafts- und Währungsunion: Rotenburg an der Fulda lag lange im Zonenrandgebiet der Bundesrepublik. Gebracht hat die Wende der historischen Kleinstadt wenig.

Rotenburg an der Fulda lag lange im Zonenrandgebiet der Bundesrepublik. Gebracht hat die Wende der historischen Kleinstadt wenig.

(Foto: imago)

Die Bewohner hatten mit der Realität der deutsch-deutschen Teilung jahrzehntelang gelebt - als wirtschaftliche Verlierer in einer sogenannten "strukturschwachen" Region. Jetzt rückte die geografische Mitte Deutschlands, die Rotenburg und die Nachbarstadt Bebra ziemlich exakt bildeten, über Nacht von der Peripherie ins Zentrum. Und das, so hoffte man, müsste doch einen Boom bringen. Es war eine Hoffnung, die nicht lange anhalten sollte. Eine Hoffnung, die binnen nur weniger Jahre ins Gegenteil umschlagen sollte.

Doch zunächst begann die Glückritterzeit: Die Straßen waren voll Menschen, vor der Postfiliale bildeten sich Schlangen, an denen DDR-Bürger ihr Begrüßungsgeld abholten. Das gaben sie im Spielzeugladen aus, in der Eisdiele, in dem kleinen Elektronikladen oder im "Haus der Mode", das kurze Zeit nach der Wende expandierte und weitere Filialen in der Stadt eröffnete.

Sie kauften West-Autos, die ihnen bauernschlaue "Wessis" zu überhöhten Preisen anboten. Und einige der Tagesgäste blieben, sie entschieden sich, ganz rüberzumachen in den Westen, nicht wenige blieben auch im Zonenrandgebiet hängen, wo man in den ersten Jahren nach der Wende insgesamt einen Bevölkerungszuwachs von fünf Prozent verzeichnete, mit regionalen Schwankungen. Nicht nur die Ostdeutschen kamen, auch Aussiedler aus den ehemaligen Sowjetstaaten kamen neu in die Städte und machten die Mischung in den Schulklassen noch bunter.

Unternehmer aus dem Zonenrandgebiet fühlten sich von diesem Wachstumsgefühl beflügelt. Autohändler, Versicherungskaufleute, fahrende Teppichhändler - alle fuhren in den Osten. Geschäftsleute eröffneten eiligst Filialen ihrer Autoteileläden und Handwerksbetriebe auf der anderen Seite der Grenze. Jeder wollte seinen Reibach machen. Und für viele dieser Mittelständler endete der Ausflug Jahre später in der Pleite. Denn es ging mit der Grenzregion nicht so weiter wie erhofft. Schon gar nicht auf der Westseite.

SZ-Serie: 25 Jahre Wirtschafts- und Währungsunion: 25 Jahre Wirtschafts- und Währungsunion Eine SZ-Serie, Teil 20 und Schluss

25 Jahre Wirtschafts- und Währungsunion Eine SZ-Serie, Teil 20 und Schluss

Ende 1994 lief die Zonenrandförderung nämlich aus; mit ihr verschwanden die Sondertöpfe, von denen Unternehmer zuvor profitiert hatten, wenn sie einen Betrieb in der Problemzone geführt hatten. Und nicht wenige machten die Filiale auf der Westseite dicht und verlagerten das gesamte Unternehmen nun ein paar Kilometer ostwärts. Dorthin, wo nun Subventionen lockten. In einem Fall baute eine Firma, die Fassaden dämmt, auf dem ehemaligen Grenzacker neu, verlegte den Firmensitz um ein Dorf, von Hessen nach Thüringen. Für die Mitarbeiter änderte sich nichts - wohl aber für die Gewerbesteuereinnahmen der Kommunen. Den Orten fehlten plötzlich die Einnahmen, aus denen sie ihre Spielplätze und Schwimmbäder bezahlt hatten.

Der Internet-Händler Amazon sollte der Randregion Nordhessen etwas Weltläufigkeit verschaffen

Auch mit dem Wachstum der Bevölkerung ging es nicht so weiter wie erhofft. Seit Beginn der Nullerjahre schrumpfen die Dörfer und Städte. Immer weniger Menschen zogen in die ehemalige Grenzregion, die Jungen zogen immer öfter in die Großstädte, sie bekamen ihre Kinder anderswo. Auch, weil Arbeitsplätze für Akademiker immer rarer wurden: Schon Mitte der Neunzigerjahre erwischte die Globalisierung große Konzerne, die sich mit Standorten im Zonenrandgebiet niedergelassen hatten - es war ein denkbar schlechter Zeitpunkt. Der Wandel traf auch den einstigen Chemiekonzern Hoechst, einen der großen Arbeitgeber in der Region. Zunächst baute die Unternehmensleitung in Bad Hersfeld massiv Arbeitsplätze ab, dann ging das Textilfaser-Werk mit dem Aus für den Konzern erst an ein amerikanisch-mexikanisches Unternehmen, firmierte mehrfach um. Und auch andere Große, die Arbeitsplätze für Ingenieure und andere Hochqualifizierte boten, Siemens etwa, zogen sich aus der Kreisstadt Bad Hersfeld zurück.

Dafür siedelten sich direkt an der Autobahn Logistikunternehmen an, die vor allem schlecht bezahlte Jobs in Hochregallagern schufen. Erst kam der Buchgroßhändler Libri, dann Amazon, damals noch kein weltweit bekanntes Unternehmen, sondern eines, von dem man sich Weltläufigkeit versprach, ein Unternehmen, mit dem die Region aufsteigen konnte. Inzwischen landet Bad Hersfeld mit Amazon tatsächlich in den Schlagzeilen - allerdings meist, wenn die Mitarbeiter in den klotzartigen Hallen des größten Onlinehändlers weltweit einmal mehr in den Ausstand treten.

Amazon Bad Hersfeld

Von Amazon versprach sich Bad Hersfeld Weltläufigkeit - doch die Beschäftigten des Onlinehändlers bringen weniger Kaufkraft als früher die Metall-Facharbeiter.

(Foto: Uwe Zucchi/dpa)

Amazon-Jobber bringen weniger Kaufkraft in die Ladenzeilen der Kleinstädte der Region als früher die Metall-Facharbeiter, die Ingenieure und Kaufleute.

In den kleinen Städten im nördlichen Hessen und im südlichen Niedersachsen kann man das sehen. Auch die Statistik weist sie als große Verlierer der Einheit aus. Sehr viele leere Schaufenster sind dort zu sehen, nicht zuletzt als Folge der digitalen Revolution und des Onlinehandels. Der Spielzeugladen hat längst dichtgemacht, das Haus steht seit Jahren zum Verkauf.

Der Lederwarenladen - geschlossen. Der Schreibwarenhändler - hat schon vor Jahren aufgegeben. Und zum Einkaufen fährt, wer das nicht übers Internet erledigt, längst nicht mehr nur nach Kassel oder Fulda. Er fährt auch nach Eisenach oder Erfurt, nach Thüringen also. Die Region ist, immerhin, zusammengewachsen.

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