Gipfelstürmer:Aufholmanöver

Frankfurt hat es lange verschlafen, junge Finanz-Firmen zu umwerben. Über eine Region, die darum kämpft, die Zukunft zu beheimaten.

Von Jan Willmroth, Frankfurt

Wenn man heute das Internet neu erfände, bräuchte man zuerst eine Lösung für die Identität der Menschen. Einen fälschungssicheren Ausweis, den jeder kontrollieren kann wie seinen echten in der Brieftasche. Das sei nämlich vergessen worden, sagt Oliver Nägele: "Man hat keine Brücke zwischen der natürlichen Person und dem Internet-Nutzer gebaut."

Vor eineinhalb Jahren hat er seine Firma Blockchain Helix gegründet, um eine solche Brücke zu bauen: Nur noch ein einziges Mal müsste eine Bank oder Versicherung die Nutzerdaten offiziell bestätigen. "Damit geben wir den Nutzern die Kontrolle über ihre Daten zurück", verspricht er.

Nägele hat sich an den Besprechungstisch einer hellen Hinterhofetage im Frankfurter Bahnhofsviertel gesetzt, das olivgrüne Hemd trägt er offen über einem T-Shirt mit aufgedrucktem Faultier. Für sein Projekt bräuchte er noch nicht die gesamte Etage, noch sind viele Arbeitsplätze frei, aber voll ist der Raum trotzdem schon oft. Denn bevor es Blockchain Helix gab, hatte Nägele, 49, hier bereits das "Fintech Headquarter" eingerichtet, das Hauptquartier der Finanztechnologie, ein Netzwerk der jungen Finanz- und Fintech-Szene, ein Ort für Start-ups, Investoren und Berater.

Seit Kurzem gibt es immer mehr solche Orte in Frankfurt.

Die Stadt braucht sie dringend. Ausgerechnet Frankfurt, das wichtigste Finanzzentrum auf dem europäischen Festland, Deutschlands Bankenhauptstadt und Heimat der größten deutschen Geldverwalter, hat lange den wichtigsten Trend in der Finanzbranche vernachlässigt: den Aufstieg der Finanztechnologie, den jahrelang nicht die Banken prägten, sondern junge Unternehmen, die Bankdienstleistungen ins digitale Zeitalter übersetzen. Fintech, eine Wortneuschöpfung aus Finanzen und Technologie, ist der Begriff für die inzwischen fünfstellige Zahl an Start-ups weltweit, die sich vornehmen, die Zukunft der Finanzwelt zu gestalten.

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Sonnenuntergang über Frankfurt: Die Finanzbranche erlebt einen Umbruch, die Stadt muss reagieren.

(Foto: imago)

Die Banken sind inzwischen aufgewacht, Frankfurt zählt acht Fintech-Initiativen, Landes- und Bundesregierung geben der Szene Starthilfe, und Blockchain-Spezialist Oliver Nägele, dem erst vieles zu langsam ging, findet: "Es hat sich einiges getan." Zwar ist in absoluten Zahlen noch weniger los als in Berlin, der selbsternannten Stadt der Jungunternehmer, weniger als in Hamburg oder in München. Aber das ändert sich rasant: Mit den neuen Initiativen ist binnen zwei Jahren ein Gründergeist in der Stadt entstanden, der wie ein Magnet neue Ideen anzieht. Frankfurt holt auf - weil es aufholen muss.

Diese neue Dynamik kann man besichtigen, in einem Hochhaus neben der Messe, zweite und dritte Etage, neu eingerichtete Großraumbüros, Platz für Gründer und Veranstaltungen. Es duftet nach frischem Holz, der Teppichboden musste erst wenige Schritte aushalten, junge Männer und Frauen tippen konzentriert auf ihren Macbooks. Im Herbst 2016 hat hier das Tech Quartier eröffnet, ein mit Unterstützung von Landesregierung und Stadtverwaltung geschaffenes Gründerzentrum, in dem Start-ups und Teams etablierter Unternehmen nebeneinander und gemeinsam arbeiten sollen. Die Goethe-Uni ist mit dabei, die TU Darmstadt und mehrere Frankfurter Banken und Berater. Spät ist immer noch besser als nie.

Das findet auch Sebastian Schäfer, der das Tech Quartier leitet. Ein führender Finanzplatz wird eben nicht von allein zu einem Ort für Unternehmer. "Es wurde zu lange zu wenig für die Fintech-Szene und den Tech-Standort gemacht", sagt Schäfer. "Jetzt haben wir keine andere Wahl, als schnell zu laufen." Aber er ist optimistisch: Gerade in den etablierten Unternehmen stecke ungeheures Potenzial, um den Standort attraktiv zu machen. Immerhin haben die Banken seit einiger Zeit angefangen, mitzumachen: Deutsche Bank und Commerzbank haben eigene Fintech-Initiativen gegründet, die Deutsche Börse sogar eine eigene Beteiligungsfirma.

Gipfelstürmer

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Wie schnell man in Frankfurt angefangen hat, das Potenzial auszuschöpfen, zeigte kürzlich auch eine Studie der Unternehmensberater von EY. Die Stadt sei - wenn man die Region-Main-Neckar mitzählt - inzwischen nach Berlin das zweitgrößte Fintech-Zentrum Deutschlands. Und es ist das am schnellsten wachsende: Die Zahl der einschlägigen Firmen war bis Ende 2016 im Vergleich zum Vorjahr um etwa die Hälfte gewachsen. "Wir erwarten, dass sich dieser Trend fortsetzt und sehen die Region als führendes Fintech-Zentrum der Zukunft", schreiben die Berater.

Frankfurter Gründer sind im Schnitt älter, erfahrener - und oft haben sie viel eigenes Geld

Während in Berlin vor allem Firmen entstehen, die Dienste für Endkunden vermarkten, konzentriert sich die Szene in Hessen auf Lösungen für Geschäftskunden, die weniger sichtbar und schwieriger zu erklären sind. Die bislang teuerste deutsche Übernahme im Fintech-Bereich war die Devisenhandelsplattform 360T aus Frankfurt, im Sommer 2015 kaufte die Deutsche Börse sie für 725 Millionen Euro. "Darüber redet aber kaum jemand, weil es kaum jemand versteht", sagt Schäfer.

Die Rhein-Main-Gründer sind im Schnitt älter als ihre Pendants in Berlin, viele von ihnen haben jahrelange Berufserfahrung in der Finanzindustrie und bringen entsprechend viele Kontakte in ihre früheren Branchen mit - und oftmals viel eigenes Geld. "Es gibt hier viele Unternehmer, die sagen: Wir machen einfach Business", sagt Schäfer. "Das passt zu Frankfurt."

Was Oliver Nägele mit der Blockchain-Technologie vorhat, ist insofern typisch für die Unternehmer in der Stadt. Die Blockchain ist als das System hinter der Kryptowährung Bitcoin bekannt geworden: Stark vereinfacht ist sie eine dezentrale Datenbank, in der etwa Datensätze über Transaktionen verkettet und fälschungssicher gespeichert werden. Es gibt Tausende mögliche Anwendungsgebiete, in fast allen Industrien; man wird keine Bank, keine Versicherung und keine Börsenbetreiber mehr finden, die nicht an Einsatzmöglichkeiten für die Blockchain arbeiten.

Nägele nutzt die Blockchain, um Identitätsmerkmale zu sichern und zu teilen: Adress- und Kontodaten, Informationen über die Krankenversicherung, Impfpässe, Zertifikate und Zeugnisse, potenziell alles, was Banken, Arbeitgeber oder Behörden abfragen. "Der Prozess, neue Kunden zu überprüfen, ist für Banken derzeit zeitaufwendig, ineffizient und bürokratisch", sagt Nägele. In seinem System müsse ein verifizierter Nutzer den Geldhäusern nur mehr per App den Zugriff auf Teile seines digitalen Ausweises erlauben. Mit seiner Idee hat sich Nägele unlängst gegen 3000 Bewerber durchgesetzt und den "TiE 50"-Award im Silicon Valley gewonnen, einen der renommiertesten Gründerpreise der Welt. Er kooperiert mit IBM, führt erste Gespräche mit Banken, auf Zugfahrten kritzelt er in seinem Notizbuch neue Szenarien für den Einsatz seines Systems.

Jetzt sucht er aber erst einmal Investoren und neue Mitarbeiter. Die Wahrscheinlichkeit, dass er beides in Frankfurt findet, steigt derzeit mit jedem Tag.

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