Südamerikas Erfahrungen mit dem Währungsfonds:Feindbild IWF

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Was heute Griechenland ist, war vor zehn Jahren Argentinien: Das Land konnte seine Schulden nicht mehr bedienen, war abhängig von internationalen Geldgebern. Der IWF forderte Reformen, doch dem widersetzten sich die linken Politiker - mit Erfolg.

Peter Burghardt, Buenos Aires

Roberto Lavagna erzählt immer wieder gerne von seinen Begegnungen mit Horst Köhler. Zehn Jahre ist das jetzt her, Argentinien hatte gerade seinen fulminanten Staatsbankrott hingelegt. Lavagna wurde Wirtschaftsminister, ein Himmelfahrtskommando, Köhler führte den Internationalen Währungsfonds (IWF). Der IWF hatte dem südamerikanischen Pleiteland 25 Milliarden Dollar in Aussicht gestellt und die Kredite an die üblichen Forderungen geknüpft. Im April 2002 in Washington eröffnete Lavagna dann dem Gastgeber Köhler, dass Argentinien kein Geld mehr wolle und stattdessen jenes Wirtschaftsprogramm anwenden werde, "das wir für richtig halten".

Proteste gegen die USA und den IWF, der auf spanisch FMI heißt: Eine Demonstration in Argentinien im Mai 2002. (Foto: REUTERS)

Dreimal musste der Ökonom aus Buenos Aires das wiederholen. "Er hat es nicht verstanden", berichtet Lavagna ein Jahrzehnt später in seinem Büro am Rande der Prachtstraße 9 de Julio und lacht. "Ich dachte erst, das liege an meinem latinischen und seinem germanischen Englisch." Der nachmalige Bundespräsident konnte es nicht fassen, dass die Republik am Abgrund den Segen des IWF ausschlägt. Ende 2005 folgte der nächste Schritt. Im Amtssitz Casa Rosada gab der damalige Präsident Néstor Kirchner bekannt, dass sämtliche Schulden beim IWF vorzeitig beglichen würden. 9,81 Milliarden Dollar, zu bezahlen aus Reserven der Zentralbank. "Ein Epochen-Wechsel", verkündete Kirchner und beschuldigte den Fonds, wachstumshemmende Politik und "Schmerz und Ungerechtigkeit" verursacht zu haben.

Kurz zuvor hatte auch Brasilien angekündigt, den IWF auszuzahlen, 15,57 Milliarden Dollar. "Ein historischer Moment", sagte der brasilianische Zentralbankchef Henrique Meirelles. Die Zeiten hatten sich gründlich geändert in Lateinamerika. Vormalige Sorgenkinder wandten sich ab vom Währungsfonds, dessen Vorschriften viele Lateinamerikaner schon lange für Fesseln und Zwangsjacke hielten. Dabei waren die Regierenden der Region einst Musterkunden des IWF gewesen.

Fiesta auf Pump

In den achtziger Jahren hatten sich viele Schuldenländer der Finanzbehörde in die Arme geworfen. Es war die Hochzeit der Diktaturen und neoliberalen Gralshüter, "das verlorene Jahrzehnt". Nachher fügten sich auch demokratische Machthaber dem Washington-Konsens und begaben sich in die Abhängigkeit des IWF. Die Finanzmärkte und Handelsströme wurden reguliert, Staatsbetriebe privatisiert und fiskalische Sparmaßnahmen eingeleitet. Wer sich an die Bedingungen der Technokraten hielt, der durfte sich immer wahnwitziger verschulden.

Mexiko bekam 1995 von IWF und Weltbank 47,8 Milliarden Dollar gegen den Kater der sogenannten Tequila-Krise. Brasilien erhielt ebenfalls ständig weiteren Nachschub. In Argentinien war mittlerweile der Partypräsident Carlos Menem gewählt worden und feierte eine Fiesta auf Pump. Der Peso wurde an den Dollar geknüpft; staatliches Tafelsilber wie die Fluggesellschaft Aerolineas Argentinas und den Ölkonzern YPF verhökerte Menem. Weltbank und Währungsfonds waren begeistert und gewährten immer mehr Kredite. Die geliehenen Milliarden retteten Großbanken und Investmentfonds, die Auslandsschulden erreichten Rekorde. 2000 lagen sie bei 147,2 Milliarden, dennoch versprach der IWF Tranchen und verlangte Reformen. Die Reichen wurden reicher, die Armen ärmer, die Arbeitslosenrate erreichte zweistellige Höhen. Bis das Kartenhaus einstürzte.

2001/2002 war Argentinien am Ende. Die Regierung setzte den Schuldendienst aus, fror Bankguthaben ein und wertete den Peso ab. Millionen Sparer verloren große Teile ihres Besitzes. Die Mittelschicht schmolz, auch ausländische Gläubiger bekamen nur ein Viertel ihrer Forderungen zurück. "Que se vayan todos", rief das Volk, alle Politiker sollen verschwinden. Es übernahmen die Linksperonisten Kirchner, erst der 2010 verstorbene Néstor, dann seine Ehefrau Cristina. "Der IWF erklärte, dass wir mit unserem Wirtschaftsprogramm keinen Erfolg haben würden", erinnert sich der Krisenmanager Lavagna. "Das Gegenteil ist passiert: Wir sind mit Raten von neun Prozent gewachsen. Dafür muss es eine Erklärung geben."

Dank billiger Währung, hoher Nachfrage nach argentinischen Rohstoffen und eigenwilliger Abkehr von den Finanzmärkten erholte sich Argentinien. "Wir haben schnell die Inflationsrate stabilisiert und Produktion, Konsum und Beschäftigung angekurbelt", erläutert Lavagna. "Danach verbesserte sich die Haushaltslage, es wurden mehr Steuern eingenommen und so weiter." Das Kürzel IWF, Spanisch FMI (Fondo Monetario Internacional) verkam derweil zum Schimpfwort, und das nicht nur am Rio de la Plata.

Armut in Argentinien: Kinder in einer Suppenküche im Mai 2002. (Foto: REUTERS)

Vom Rio Grande bis hinab nach Feuerland stehen die drei Buchstaben in linken Kreisen für Rezession, Depression, Bevormundung. Die Enttäuschung der Massen spülte traditionelle Parteien hinweg und eine bunte Riege politischer Rebellen in die Präsidentschaftspaläste. In Venezuela setzte sich der frühere Offizier Hugo Chávez durch, er propagiert den ölreichen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts". In Bolivien gewann der Kokagewerkschafter Evo Morales, in Ecuador der linke Wirtschaftswissenschaftler Rafael Correa, in Paraguay der Befreiungstheologe Fernando Lugo, in Uruguay und Brasilien die einstigen Guerilleros José Mujica und Dilma Rousseff. Der IWF solle sich auflösen, spottet Lautsprecher Chávez. "Verschwinde aus der Welt!"

Lateinamerikanische Länder begannen wieder zu verstaatlichen und Importe zu beschränken. Argentinien übernahm seine Aerolineas und entriss YPF dem spanischen Käufer Repsol. Viele Bilanzen sind zwiespältig, Argentinien leidet schon wieder unter Protesten und Engpässen, Lavagna hat das Kabinett längst verlassen. Doch die Konkursstaaten der Vergangenheit wachsen - anders als Europa - seit Jahren, horten Devisen und haben ein relativ gesundes Bankensystem. Orthodoxe Geister fluchen über die Rückkehr des Staates, Ökonomen wie Joseph Stiglitz und Paul Krugman applaudieren. Warum es nicht den Latinos nachmachen?

Das Griechenland-Rezept: Löhne und Renten runter, Steuern hoch

Brasilien stieg unter dem ehemaligen Streikführer Luiz Inácio Lula da Silva und seiner Erbin Rousseff zur sechstgrößten Volkswirtschaft auf. Mit Sozial-programmen und Wachstumsplänen wechselten Millionen Brasilianer aus der Misere in den Kaufrausch. Lula wanderte zwischen Weltsozialforum in Porto Alegre und Weltwirtschaftsforum in Davos hin und her. "Der IWF muss sein Benehmen ändern", riet Lula. Nachfolgerin Rousseff wetterte: "Wir wissen, welche Gelegenheiten wir in zwei Jahrzehnten der Einmischung des IWF in unsere Politik der Investitionen und des Konsums verpasst haben."

Brasilien will sich an der Aufstockung der IWF-Mittel beteiligen, verlangt jedoch wie andere Schwellenländer mehr Einfluss und einen Kurswechsel. Der Mexikaner Agustín Carstens trat sogar gegen Christine Lagarde an. Verblüfft erleben Brasilianer, Argentinier oder Mexikaner, wie auf einmal Spanier, Portugiesen und Griechen taumeln und gegen alte Vorgaben mit neuen Milliarden versorgt werden. Die Bilder und Berichte von Demonstrationen und Krisensitzungen kommen vielen Zuschauern vor wie ein bekannter Film.

Das Griechenland-Rezept sei wie das, was Argentinien verschrieben wurde, sagt Lavagna. Löhne und Renten runter, Steuern hoch. "Das schützt die Interessen des Finanzsektors und hilft nicht, die Probleme des Landes zu lösen. Mit dem Geld werden die Gläubiger bezahlt, die Bevölkerung wird ausgepresst." Manchmal, sagt er, habe er das Gefühl, da wurde nichts gelernt.

Der Text erscheint in einem Schwerpunkt zum Leaders' Dialogue der Süddeutschen Zeitung in New York. Den Schwerpunkt finden Sie hier.

© SZ vom 11.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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