Studien von Foodwatch und Oxfam zu Welthunger:Wirtschaftsethiker wirft NGO schlampige Recherche vor

Die Organisationen Foodwatch und Oxfam sind überzeugt: Indem die Banken die Spekulation mit Nahrung ermöglichen, treiben sie die Preise nach oben und sind somit für den Hunger in der Welt verantwortlich. Jetzt stellt sich heraus, dass dieser Vorwurf falsch sein könnte.

Andrea Rexer

Es macht ihm sichtlich keinen Spaß, Organisationen wie Foodwatch oder Oxfam frontal anzugreifen. An Sympathie für zivilgesellschaftliche Organisationen (NGOs) mangelt es Ingo Pies nicht. Der Wirtschaftsethiker an der Universität Halle hat in seiner Studentenzeit selbst eine Initiative gegründet. "Init" nannte er seine Gruppe, die für eine Politik kämpfte, die Drogentote verhindern sollte. "Kritik an Missständen zu üben, ist eine der wichtigsten Funktionen von zivilgesellschaftlichen Organisationen", betont er. Aber im Fall der Agrarspekulation hätten sich die NGOs verrannt. "Man kann den Banken nicht die Schuld für steigende Agrarpreise in die Schuhe schieben. Der Spekulations-Alarm ist ein Fehlalarm", sagt der Ökonom.

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Nichtregierungsorganisationen sehen einen Zusammenhang zwischen Spekulationen mit Rohstoffen und dem Hunger auf der Welt.

(Foto: Getty Images)

Mit "Die Hungermacher" hatte die Organisation Foodwatch eine viel zitierte Studie überschrieben, welche die Grundlage ihrer Kampagne gegen die Deutsche Bank, Goldman Sachs und andere Institute bildet. Auch Oxfam legte eine ähnliche Studie vor, ebenso die Welthungerhilfe. Die These der NGOs lautet: Indem die Banken den Anlegern ermöglichen, in Rohstoffprodukte zu investieren, treiben sie die Preise. Menschen in Entwicklungsländern könnten sich daher ihre Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten.

Über Wochen hinweg hat sich Pies die Studien angesehen und mit anderer wissenschaftlicher Literatur zum Thema verglichen. Sein Ergebnis ist ernüchternd: "Die Argumente halten einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand."

Unstrittig ist, dass Finanzmarktgeschäfte mit Rohstoffen in den vergangenen zehn Jahren durch die Decke gegangen sind. Ihr Volumen stieg von 13 Milliarden Dollar im Jahr 2003 auf 412 Milliarden im Jahr 2011. Doch dabei wandert kein physisches Öl, Gold und auch kein Mais oder Weizen über den Tresen, es handelt sich um reine Finanzgeschäfte. "Die NGOs nehmen das als Anhaltspunkt, um zu zeigen, dass sich die Finanzmärkte von den realen Märkten entkoppelt haben. Doch das ist ein Fehlschluss", sagt Pies. Es sei völlig normal, dass das Volumen der Finanzgeschäfte weit über dem Volumen des realen Warenaustausches liege.

Um dem Argument folgen zu können, muss man verstehen, wie Termingeschäfte funktionieren. Sie sind so etwas wie die Basisprodukte der Spekulation: Mit ihnen lässt sich auf zukünftige Preise wetten. Wenn beispielsweise ein Bauer erwartet, dass der Preis steigen wird, sucht er einen Investor, der vom Gegenteil überzeugt ist. Beide legen bei Abschluss der Transaktion fest, zu welchem Preis der Weizen später über den Tresen wandern wird.

Wenn der Bauer in diesem Zeitraum seine Preiserwartung ändert, kann er mit einem Gegengeschäft das erste neutralisieren und ein neues Geschäft - zu einem neuen Preis - abschließen. Allein dadurch vervielfache sich das gehandelte Volumen an den Börsen, argumentiert Pies.

Gegenargumente ausgeblendet

Doch nicht immer sind es Bauern, die solche Finanzgeschäfte abschließen. Vielfach sind es Händler unter sich, die Wetten abschließen. Für die NGOs ist klar, dass genau diese Wetten die Preise treiben. "Die Studien haben weitestgehend Daten ausgeblendet, die dagegen sprechen", kontert Pies. Die Spekulationsgeschäfte könnten den aktuellen Preis nur dann antreiben, wenn es zu Lagerbildung komme. "Aber das ist nicht zu beobachten", sagt der Wirtschaftsprofessor.

In seinen Augen handelte es sich bei dem Preisanstieg zwischen 2006 und 2008 nicht um eine Blase, sondern um eine reale Knappheit. Wegen Ernteausfällen und der Produktion von Biosprit statt von Nahrungsmitteln sei der Preis sowohl auf dem Terminmarkt als auch auf dem aktuellen Markt gleichzeitig angestiegen. "Es ist ein deutliches Signal, dass wir zu wenig Nahrungsmittel haben. Dieses zentrale Problem müssen wir lösen - nur hilft die Debatte über die Spekulation dabei nicht".

Er führt noch ein weiteres Argument an, warum die Finanzprodukte nicht für den Preisanstieg verantwortlich sein könnten: Es seien im fraglichen Zeitraum nicht alle Rohstoffpreise gestiegen, die vom Indexhandel erfasst werden. Die Preise für Baumwolle oder Rinder etwa seien zwischen 2006 und 2008 gesunken. Ein anderes Beispiel ist Reis: Er wird vom Indexhandel nicht erfasst, hat aber von 2006 bis 2008 trotzdem eine Preissteigerung um 168 Prozent hingelegt.

Beim Stöbern in den wissenschaftlichen Unterlagen ist der Wirtschaftsethiker darauf gestoßen, dass eine ähnliche Debatte wie heute schon vor mehr als 100 Jahren geführt wurde. Damals griff die Regulierung hart durch: An der Berliner Börse durfte am 1. Januar 1897 nicht mehr auf Weizen spekuliert werden. "Die Wirkung war desaströs", beschreibt Pies.

Der Weizenpreis ging rasant auf und ab, doch durch die Regulierung konnten sich die Bauern nicht mehr mit Finanzprodukten gegen die Kursbewegungen absichern. "Es wurde zum Glücksspiel, an welchem Tag man die Ernte einfuhr und verkaufte", so Pies. Die Korrektur kam postwendend: Drei Jahre später wurden die verbotenen Termingeschäfte wieder erlaubt.

In seinen Augen ist das ein gutes Beispiel, um zu zeigen, dass Spekulation wirtschaftlich sinnvoll und zugleich moralisch erwünscht sei. Sie erlaube den Produzenten ihre Risiken abzusichern und den Investoren etwas daran zu verdienen, wenn sie diese Risiken übernehmen.

Doch in der Hungerdebatte sei die Spekulation das falsche Thema. "Das ist ein Nebenkriegsschauplatz. Die NGOs verschwenden ihr moralisches Engagement", sagt der Wirtschaftsethiker. Der Hunger in der Welt sei schließlich keine Lappalie: Es gehe um Leben oder Tod.

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