Streit um TTIP:"Wir sind der universelle Sündenbock"

Veranstaltung zu Freihandelsabkommen TTIP

Seit Monaten tourt De Gucht durch Europa, um für das derzeit umstrittenste internationale Wirtschaftsprojekt zu werben.

(Foto: dpa)

EU-Kommissar Karel De Gucht ist für das derzeit umstrittenste internationale Wirtschaftsprojekt zuständig. Jetzt versucht er mit großen Versprechen das Handelsabkommen zwischen Europa und USA zu retten. Doch das steht auf der Kippe.

Von Alexander Hagelüken und Silvia Liebrich

Vor einer Weile hat Karel De Gucht in der Zeitung gelesen, dass der US-Geheimdienst NSA neben Angela Merkel und vielem anderen auch Handelsinstitutionen ausspionierte. De Gucht fragte sich, ob er, Brüssels Kommissar für den Welthandel, ebenfalls Opfer des großen Spähangriffs geworden ist. Also schrieb er seinem US-Gegenüber Mike Froman einen Brief. Er bekam darauf bis heute keine Antwort. Wer ihm ins Gesicht schaut, sieht gleich, wie unverschämt das dieser seriös gekleidete ältere Herr findet. "Ich stimme verärgerten Europäern zu", sagt er, "das Ausmaß der NSA-Spionage ist unerträglich."

Da wäre mal etwas, das der Brüsseler Kommissar mit Millionen Europäern gemeinsam hat: Die Wut über die Spionage der offiziell befreundeten Amerikaner. Aber diese Gemeinsamkeit stellt eine Ausnahme dar. Aktuell ist es immer De Gucht selbst, auf den sich die Wut von Millionen Europäern konzentriert. Seit Monaten trommeln Aktivisten gegen das Handelsabkommen von Europa und den USA, das er verhandelt. Kaum ein Thema wird vor der Europawahl heißer diskutiert. Nun gab es Proteste gegen internationale Gipfel für mehr Exporte auch früher. Doch nie fand über Monate eine europaweite Kampagne gegen ein Abkommen statt, das doch laut EU nur Gutes bringt. Der Widerstand könnte das Ganze zu Fall bringen.

Seit Monaten tourt De Gucht durch Europa

De Gucht sitzt in einem Konferenzraum über den Dächern Münchens. Seit Monaten tourt der 60-jährige Belgier durch den Kontinent, um für das derzeit umstrittenste internationale Wirtschaftsprojekt zu werben. Diesen Donnerstag soll er vor dem Bundesrat auftreten. In München hat er sich eine Krawatte umgebunden, auf der freundliche Vögel um freundliche Wolken kreisen. Er versucht es mit Charme: "Wenn die Protestierer Schuhe auf mich werfen, dann bitte Größe 43, die kann ich anziehen." Er versucht es mit Argumenten: Der Wegfall von Exportschranken in die USA bringe Europa 120 Milliarden Euro mehr Wirtschaftsleistung im Jahr. Ein Drittel aller Exporte in die USA seien deutsch. "Wie könnte Deutschland dagegen sein?" Das Südkorea-Abkommen habe die EU-Exporte 2013 um sieben Milliarden Euro erhöht, während Korea weniger exportierte. Jederzeit könne er alles einem Mann auf der Straße erklären: "Ich würde fragen: Wollen Sie, dass ihre Kinder in einem boomenden Land wohnen? Wir leben in einer globalisierten Welt, das ist nicht zu ändern, aber wir wollen sie wenigstens gestalten."

Das Problem ist nur, dass den Mann auf der Straße ganz anderes zu bewegen scheint. Vor ein paar Tagen in Niederbayern. Eine beschauliche Gegend, bodenständige Leute. Auf die Barrikaden steigen ist nicht ihre Sache. Doch das geplante Abkommen schürt dort wie andernorts Ängste, so wie auf dieser Informationsveranstaltung. Eine jüngere Frau steht auf und sagt: "Ich bin überzeugt, dass bei uns Genfood auf dem Teller landen wird!" Viele im Saal applaudieren. Ein älterer Mann meldet sich und fragt: "Wer ist dieser De Gucht? Wer hat ihn überhaupt damit beauftragt, in unserem Namen zu verhandeln?"

Karel De Gucht könnte sich jetzt im Münchner Hochhaus zurücklehnen und sagen, dass ihn Europas Regierungen beauftragt haben. Alle 28. Aber Auftrumpfen kommt nicht mehr gut an, das merkt er. Also sagt er freundliche Sätze wie den, er interessiere sich für die Meinung der Menschen. Daher habe er zum umstrittenen Investorenschutz eine öffentliche Anhörung gestartet. Er weiß, dass seine Gegner punkten mit dem Vorwurf, das Abkommen helfe Konzernen, vor geheimen Schiedsgerichten gegen Umwelt- und Gesundheitsregeln zu klagen. So wie Vattenfall gegen den deutschen Atomausstieg klagt. Daher stoppte De Gucht die Verhandlungen über diese Frage, um den Kritikern zuzuhören.

Versprechen nach außen, Druck nach innen

Das Thema zeigt, wie er kämpfen muss, damit das Abkommen überlebt. Nach außen wagt der liberale Kommissar an diesem Tag ein großes Versprechen: Durch neue Regeln werde die Zahl potenzieller Klagen sinken. Weniger Klagen, nicht mehr: das ist eine Ansage. Nach innen kämpft er auch. Laut internem Protokoll drängte er die EU-Handelsminister bei ihrer letzten Sitzung, "von öffentlichen kritischen Bemerkungen zum Investorenschutz abzusehen." Versprechen nach außen, Druck nach innen - da ist etwas ins Rutschen gekommen.

Rückblende: Als De Gucht vor einem halben Jahr in Brüssel empfing, wirkte er noch sicher. Auf der Krawatte keine freundlichen Vögel, sondern graues Stahl, der Knoten stramm gebunden. Einer, der überzeugen will und der überzeugt ist, dass ihm das gelingt. "Wir versuchen eine gute Story zu verkaufen, aber wo es Gewinner gibt, gibt es auch Verlierer", sagte er ehrlich. Und: "Es ist doch glasklar, dass das Abkommen hochgradig nützlich sein wird."

Inzwischen ist kaum noch etwas glasklar, außer der wachsende Widerstand. "Ich verbringe meine Zeit damit, Missverständnisse aufzuklären", sagt er an diesem Tag in München, und sein eisernes Lächeln täuscht nur kurz darüber hinweg, was für ein harter Job das ist. Gerade hat er Kanada in einem Abkommen nur den Export von Fleisch erlaubt, das nicht mit Hormonen behandelt wird. "Ich habe so oft klargestellt, dass es keine Hormonrinder aus den USA geben wird, dass mir die Leute glauben sollten." Politiker wie José Bové, der grüne Europa-Spitzenkandidat, behaupteten aber das Gegenteil. "Das sind komplette Lügen", schimpft er. Auch an diesem Punkt versucht er die Angst der Menschen vor Chlorhuhn und Genmais made in USA mit einem großen Versprechen zu dämpfen: "Wir werden unsere Gesundheits- oder Umweltstandards nicht senken", erklärt der Kommissar.

"Wir sind der universelle Sündenbock"

Wer die Auseinandersetzung De Guchts mit den Gegnern beobachtet, könnte denken, das Abkommen sei sein Privatspaß. Dabei war es die Kanzlerin des größten EU-Staats, die das Projekt vor eineinhalb Jahren historisch nannte, auch weil Europäer und Amerikaner gemeinsam Normen setzen wollen, bevor es die Chinesen tun. Heute ist von Angela Merkel wenig zu hören. "Wir sind der universelle Sündenbock", seufzt der Kommissar auf die Frage, warum sich die Kritik auf Brüssel konzentriert. Die Gegner werfen ihm Geheimgespräche um das Abkommen vor, er entgegnet: "Sie können leicht ihren Sommerurlaub damit ausfüllen, alle Dokumente auf unserer Website zu lesen." Er würde gern sein Verhandlungsmandat veröffentlichen, doch die nationalen Regierungen sind sich darüber uneinig. De Gucht kennt es, das Spiel: Die Regierungen halten sich gern zurück und lassen Brüssel in der Öffentlichkeit kämpfen - und als Sündenbock dastehen, wenn es schiefläuft.

Trotzdem würde er im November weitermachen, wenn sie ihn nochmal als Handelskommissar berufen, worüber auch Belgiens Wahlen entscheiden. "Ein neuer Kommissar verliert sechs Monate. Es ist sinnvoll, dass ich es mache", sagt er und lacht: "Falls nicht alle sagen, wir müssen diesen Kerl vom Felsen schmeißen, damit wir überhaupt ein Abkommen hinkriegen."

Solange er da ist, trommelt er für den Deal mit den USA. Nach wie vor peilt er einen Abschluss im nächsten Jahr an. Wer in die Brüsseler Kommission hineinhört, hört dagegen sehr wohl Zweifel. Allen steckt das Acta-Abkommen gegen Produktpiraterie in den Knochen, das Aktivisten mit Hilfe des EU-Parlaments zu Fall brachten. De Gucht dagegen würde nie öffentlich zweifeln, dafür ist in einer so bedrängten Situation einfach nicht der richtige Moment. Vor einem halben Jahr in Brüssel, als alles noch viel besser aussah, konnte er noch offener sein. "Verhandlungen", sagte er damals beiläufig, "können auch scheitern."

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