Streit um Sparpolitik in Europa:Prinzipien, Verstöße und Reformen

Streit um Sparpolitik in Europa: Finanzminister Wolfgang Schäuble während der Haushaltsdebatte im Bundestag.

Finanzminister Wolfgang Schäuble während der Haushaltsdebatte im Bundestag.

(Foto: AP)

Reflexartig verteufeln Unionspolitiker alle Überlegungen, Ländern wie Frankreich und Italien mehr Zeit zur Sanierung ihrer Haushalte einzuräumen. Dabei müssten sie gerade aus der deutschen Etatpolitik die Lehre ziehen: Wer die Probleme seines Landes anpackt, der bekommt mehr Zeit. Wer nicht, der nicht.

Ein Kommentar von Claus Hulverscheidt, Berlin

Der Rechtskundler Wolfgang Schäuble hat dem Parlamentskollegen Dietmar Bartsch von der Linkspartei am Dienstag eine Lektion in politischer Richtungslehre erteilt. Bartsch hatte in der Haushaltsdebatte des Bundestags der Koalition erst zu wenig, dann zu viel Spareifer vorgeworfen, was Schäuble mit dem spöttischen Wort quittierte, die Opposition müsse sich schon entscheiden, ob sie die Regierung rechts oder links überholen wolle.

Dumm nur, dass sich der Minister wenige Minuten später eine ganz ähnliche Paradoxie erlaubte. Schäuble nämlich lobte die Koalition für ihre Erfolge in der Haushaltspolitik, mokierte sich dann jedoch über jenen "schweren Fehler", den sich 2003 die damalige rot-grüne Bundesregierung mit dem Bruch des Europäischen Stabilitätspakts geleistet habe. Das ist insofern widersinnig, als die meisten Ökonomen heute einräumen, dass die Agenda 2010 des Kanzlers Gerhard Schröder ohne die zeitweise Missachtung der EU-Defizitregel nicht umsetzbar gewesen wäre. Und die Strukturreformen der Agenda wiederum sind ein wichtiger Grund dafür, dass sich Schäubles Budget heute fast von alleine saniert.

So fatal das Verhalten Schröders und seines französischen Mittäters Jacques Chirac - politisch gesehen - für die Glaubwürdigkeit des Stabilitätspakts war, so richtig war es ökonomisch, die beiden größten Volkswirtschaften Europas, und damit den ganzen Kontinent, nicht gleichzeitig in eine tiefe Rezession zu schicken. Das sollten die Unionsmenschen bedenken, die dieser Tage reflexartig alle Überlegungen verteufeln, Frankreich und Italien ein wenig mehr Zeit zur Etatsanierung einzuräumen.

Wer saniert, der soll mehr Zeit bekommen. Wer nicht, der nicht

Dabei kann Paris und Rom geholfen werden, ohne dass der Stabilitätspakt angetastet wird. Es gilt nur, die Flexibilität zu nutzen, die nach dem deutsch-französischen Coup vor zehn Jahren geschaffen wurde. Allerdings müssen die Lehren aus den damaligen Fehlern gezogen werden, denn anders als Schröder nutzte bekanntlich Chirac die gewonnene Freiheit nicht dazu, die Probleme seines Landes anzupacken. Für heute heißt das: Nur Länder, die ein umfassendes Reformprogramm mit konkretem Zeitplan auflegen, dürfen die Haushaltssanierung ein, zwei Jahre strecken. Fatal wäre hingegen, wenn die EU erlauben würde, einfach irgendwelche Ausgaben aus dem Defizit herauszurechnen. Das würde Missbrauch Tür und Tor öffnen und die tatsächliche finanzielle Lage aller EU-Länder verschleiern - bis zum nächsten Knall.

Bei allem, was man über die Mutlosigkeit französischer Reformer sagen kann, sollte sich zudem die amtierende Koalition in Berlin vor Überheblichkeit hüten. Denn ein Mangel an Strukturreformen lässt sich ja nicht nur westlich, sondern auch östlich des Rheins konstatieren. Die Agenda 2010 hat der Bundesrepublik einen Reformvorsprung verschafft. Mittlerweile aber fahren Union und SPD angesichts guter Haushaltszahlen insbesondere in der Rentenpolitik mit Vollgas in die falsche Richtung. Tun sie das weiter, könnten es bald wieder die Deutschen sein, die um mehr Flexibilität im Stabilitätspakt betteln müssen.

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