Streit um den Brexit:Auf Pfund und Pence

Streit um den Brexit: In London verteilen Brexit-Anhänger Flugblätter, die fünf Gründe liefern, für den Austritt zu stimmen.

In London verteilen Brexit-Anhänger Flugblätter, die fünf Gründe liefern, für den Austritt zu stimmen.

(Foto: Frank Augstein/AP)

Der Beitritt zur Europäischen Union 1973 hat Großbritannien damals aus der Depression geholfen. Aber bei einem wichtigen Thema bereitet die Mitgliedschaft Probleme.

Von Björn Finke, London

350 Millionen Pfund sind eine Menge Geld. Und diese Summe überweist das Vereinigte Königreich jede Woche an die EU. Das behauptet zumindest das Austritts-Lager in Großbritannien, also jene Politiker und Prominenten, die dafür kämpfen, dass die Bürger beim Referendum am 23. Juni für den sogenannten Brexit stimmen. Doch Sir Andrew Dilnot, Chef von UKSA, der britischen Aufsichtsbehörde für Statistiken, sah sich nun genötigt, die EU-Gegner dafür zu rüffeln. In einem zweiseitigen Brief bewertet er diese Aussage höflich, aber bestimmt "als möglicherweise irreführend".

Denn zum einen berücksichtigt die Rechnung der Brexit-Fans nicht den Rabatt der Briten auf ihren Beitrag zum EU-Budget. Zum anderen fällt unter den Tisch, was die EU zurück ins Königreich überweist, etwa in Form von Subventionen für Landwirte. Dilnots Behörde kommt deswegen auf eine Netto-Belastung von höchstens 135 Millionen Pfund pro Woche.

Im Königreich tobt eine hitzige Debatte über das zukünftige Verhältnis zur Europäischen Union. Umfragen sagen ein enges Rennen voraus. Und beide Lager, EU-Freunde wie -Gegner, nutzen gerne wirtschaftliche Argumente und Statistiken, um zu belegen, wie schlimm ein Austritt oder ein Verbleib wäre.

Brexit-Freunde klagen, dass die Milliarden aus London für den EU-Haushalt in der Heimat mehr gebraucht würden. Zudem werfen sie Brüssel vor, Firmen mit überflüssiger Bürokratie zu belasten und zu wenige Handelsabkommen mit Schwellenländern abzuschließen. Trotz dieser Kritik: Die meisten Volkswirte gehen davon aus, dass die EU dem Königreich insgesamt genutzt hat - und immer noch nutzt.

Bevor Großbritannien 1973 beitrat, war das Land der kranke Mann Europas. Die Wirtschaft wuchs langsamer als in den großen EU-Gründungsstaaten Deutschland, Frankreich und Italien. Dieser Trend kehrte sich nach dem Beitritt langsam um. Im Durchschnitt nahm die Wirtschaftsleistung im Königreich in den vergangenen vier Jahrzehnten schneller zu als bei den drei Gründungsmitgliedern. Besonders rasant wuchs die britische Wirtschaft in den Jahren nach 1992. In dem Jahr etablierte Brüssel den gemeinsamen Binnenmarkt. Der ermöglicht es Firmen, Waren problemlos im europäischen Ausland zu verkaufen, ohne auf besondere nationale Zulassungsvorschriften achten zu müssen.

Um diese Hindernisse für grenzüberschreitenden Handel zu schleifen, verabschiedete die EU viele Gesetze. Austritts-Freunde regen sich über die gefühlte Gesetzesflut aus Brüssel auf - ironischerweise scheinen jedoch britische Betriebe massiv profitiert zu haben vom Binnenmarkt, der ohne EU-Regeln undenkbar wäre.

Dass sich das Land nach 1973 ordentlich entwickelt hat, liegt allerdings nicht allein an der EU. In den Siebzigerjahren begann die Ölförderung in der Nordsee, und von 1979 an krempelte die Eiserne Lady Margaret Thatcher die Wirtschaft um. Der britische Wirtschaftshistoriker Nicholas Crafts glaubt aber, dass die EU einen großen Beitrag zur Aufholjagd leistete. In den Sechzigerjahren habe es im Königreich zu wenig Wettbewerb auf den Märkten gegeben, sagt er. Der Abbau von Handelsschranken nach dem Beitritt habe zu mehr Konkurrenz aus dem Ausland geführt und britische Firmen so besser gemacht.

Viele Ökonomen versuchen, Kosten und Nutzen der Mitgliedschaft auf Pfund und Pence zu beziffern. Der größte Arbeitgeberverband CBI hat solche Studien verglichen. Die EU-freundlichen Lobbyisten kommen zu dem Schluss, dass die Union die Wirtschaftsleistung des Landes um bis zu fünf Prozent erhöhe. In den vergangenen vier Jahrzehnten habe dadurch jeder Bürger jedes Jahr rechnerisch gut 1500 Euro mehr erwirtschaftet. Die Mitgliedschaft ermöglicht demzufolge mehr Handel und lockt mehr Investoren auf die Insel. Zugleich ist Großbritannien eine der am wenigsten regulierten Volkswirtschaften der Welt, was Klagen über Bürokratie und Gleichmacherei aus Brüssel die Wucht nimmt.

Das Finanzministerium wiederum veröffentlichte eine Analyse über die Folgen eines Brexit. Die Beamten schätzen, dass jeder Haushalt im Jahr 2030 um 5300 Euro ärmer wäre, würde das Land die EU verlassen. Verglichen mit den Vorteilen der Mitgliedschaft ist die Belastung durch den Beitrag zum EU-Haushalt also ein Witz.

Deswegen führen die Brexit-Anhänger neben den wirtschaftlichen Argumenten auch politische an. So beklagen sie, dass das Königreich als Mitglied der EU die Einwanderung nicht kontrollieren kann. Das stimmt: Premier David Cameron versprach den Wählern, die Zahl der Migranten auf unter 100 000 pro Jahr zu drücken. Doch diese Zielmarke verfehlt er regelmäßig, und daran wird sich nichts ändern, solange das Land als EU-Mitglied attraktiv für Einwanderer aus Osteuropa bleibt.

Unternehmerverbände betonen zwar, die Migranten nutzten der Wirtschaft, aber viele Briten finden trotzdem, dass entschieden zu viele Osteuropäer auf ihrer Insel leben. Zumindest aus Sicht dieser Wähler ist die Bilanz der EU-Mitgliedschaft bei diesem wichtigen Thema negativ.

Außerdem bemängelt das Austritts-Lager, dass Großbritannien in der EU an Macht verloren habe. Das einstige Weltreich müsse sich nun dem Diktat anderer Staaten beugen, heißt es. Tatsächlich besetzen immer weniger Briten einflussreiche Posten in der Kommission - ihr Anteil sank auf fünf Prozent, obwohl das Land für fast 13 Prozent der Bevölkerung in der Union steht. Der Grund dafür ist jedoch keine anti-britische Verschwörung, sondern schlicht, dass sich nur wenig Nachwuchskräfte aus London für eine Karriere in Brüssel begeistern.

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