Streit über Strategie gegen Krise:Grenzen des Sparens

Firmen gehen pleite, Beamte müssen eigenes Klopapier mit zur Arbeit bringen: In der Schuldenkrise alle Staaten nur zum Sparen zu zwingen, hat nicht funktioniert. Das gibt jetzt sogar EU-Kommissionschef Barroso zu. Er muss den Ländern nun mehr Zeit geben, um sich zu erholen.

Ein Kommentar von Cerstin Gammelin, Brüssel

Politiker schwärmen oft von Europas Vielfalt. Sie beziehen sich dabei auf die meist als interessant und bereichernd empfundenen kulturellen Traditionen jenseits der eigenen Landesgrenzen. Man freut sich an der Unterschiedlichkeit und will, dass die Unterschiede bleiben. Interessant ist, dass es mit der Freude, ja sogar mit ganz einfacher Toleranz recht schnell vorbei ist, wenn es um ökonomische Vielfalt geht.

Denn in der Haushaltspolitik fordern die europäischen Politiker Einheitlichkeit. Alle Länder, insbesondere die 17 Mitglieder Euro-Gruppe, sollen exakt dieselben wirtschaftlichen Kriterien erfüllen, alle nationalen Volkswirtschaften mit demselben Maß gemessen werden - und das, obwohl in Europa traditionell sehr unterschiedlich gewirtschaftet wird.

Dieses Konzept, alles in eine Schablone zu pressen, ist in der anhaltenden Krise an seine Grenzen gestoßen. Portugal, Spanien, Griechenland, Irland haben unglaubliche Spar- und Reformprogramme aufgelegt, um solide Haushalte zu erreichen und jene für alle Euro-Staaten geltenden Kriterien zu erfüllen. Dennoch haben sie die Ziele nicht erreicht. Die Schulden steigen.

Der Plan hat bisher nicht funktioniert

Rein volkswirtschaftlich gesehen, ist es zwar ein kluger Plan, zunächst Schulden abzubauen und zu reformieren, um danach auf einem wirtschaftlich gesunden Fundament zu wachsen. Das Problem ist nur, dass dieser Plan in der Praxis bisher nicht funktioniert hat. EU-Kommissionschef José Manuel Barroso liegt also nicht falsch, wenn er eingesteht, dass ein politisches Konzept noch so richtig sein kann - wenn es die Bürger mangels Erfolgs nicht akzeptieren, ist es nicht durchsetzbar.

Die europäischen Sozialdemokraten haben Barroso prompt gratuliert, aus einem fünfjährigen Koma aufgewacht zu sein. Das klingt populistisch, enthält aber mehr als ein Körnchen Wahrheit. Seit Langem ist sichtbar, dass die am stärksten gegen die Krise kämpfenden Länder nicht vorankommen - sie sparen und reformieren, Unternehmen gehen pleite, Jobs verloren, das öffentliche Leben kommt zum Erliegen. Gerichtsurteile werden nicht zugestellt, weil Kopierer kaputt sind, Beamte müssen Stifte und Toilettenpapier zur Arbeit mitbringen, Krankenhäuser haben keine Medikamente mehr. In Spanien lebt jeder achte Bürger in Armut. Es sind Zustände, die sich Bürger anderswo kaum vorstellen mögen.

Daraus ergeben sich zwei Schlussfolgerungen. Natürlich können sich die Euro-Länder nicht kurzfristig komplett von den Spar- und Reformprogrammen verabschieden. Das würde zu viel Vertrauen in die Währungsunion kosten. Nötig ist allerdings ein sanftes Umsteuern: Die EU-Kommission kann die strengen Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes individueller auslegen - und den Krisenländern viel mehr Zeit einräumen, um die Haushaltsziele zu erreichen. Langfristig muss zudem darüber nachgedacht werden, ob der einst gefeierte Pakt mit seinen starren, gleichen Regeln für alle noch zeitgemäß ist. Die Krise zeigt: Trotz gemeinsamer Währung geht es ökonomisch vielfältig zu in Europa.

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