Streikwelle:Die neue Lust auf Arbeitskampf

Über Jahre hinweg hat Deutschland Streiks fast nur noch als Drohgebärde erlebt. Doch mitten im Wirtschaftsaufschwung hat sich das gründlich geändert.

Detlef Esslinger

Nun also die Bahn: Wieder mal rufen Gewerkschafter zum Streik auf, wieder mal wird aus einer Tarifrunde ein Tarifkonflikt. Über viele Jahre hinweg waren Streiks in Deutschland eine Seltenheit.

Man hatte sich daran gewöhnt, dass Gewerkschafter und Arbeitgeber zwar jede Tarifrunde mit inszeniertem Entsetzen über die Position des jeweils anderen begannen, sich dann aber doch relativ rasch einig wurden. Einen Streik erlebten Arbeitgeber in der Regel nur als Drohgebärde, nicht als Realität.

Mehr als gefühlte Wahrnehmung

Inzwischen geht es anders zu. Am Wochenende erst haben die Beschäftigten der Telekom ihren Arbeitskampf offiziell beendet, jetzt wollen die Lokführer den Verkehr bundesweit lahmlegen - eine Eskalation, wie man sie nur aus anderen Ländern kennt. In der Druckindustrie gehören Warnstreiks ohnehin zum Alltag, in der Metallindustrie wurde in diesem Frühjahr die Arbeit niedergelegt.

Und in der norddeutschen Baubranche läuft der Streik in der dritten Woche. Dass es härter zugeht als früher, ist nicht nur gefühlte Wahrnehmung. Nach einer Erhebung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung fielen von 1996 bis 2005 in Deutschland 2,4 Arbeitstage je tausend Beschäftigte aus. 2006 waren es bereits 3,3. Woran liegt das?

Zunächst am Aufschwung. Nach der Jahrtausendwende waren die Wirtschaftsdaten objektiv schlecht. Geld, das nicht da ist, kann niemand herbeistreiken. Inzwischen jedoch geht es der Wirtschaft wieder besser; nur notorische Schwarzseher beurteilen ihre Geschäftsperspektiven schlechter als vor ein, zwei Jahren. Gewerkschaften versuchen, im Aufschwung die Zuwächse zu erzielen, die ihnen im Abschwung verwehrt blieben. Wenn nicht jetzt, wann dann - nach dem Motto verhandeln sie jetzt.

Darüber hinaus stehen sie mittlerweile unter ganz anderem Druck als früher. Das zeigt sich zunächst in Fällen wie der Telekom oder dem Öffentlichen Dienst (im vergangenen Jahr): In beiden Fällen ging es nicht um höhere Löhne, sondern darum, in Jahrzehnten erkämpfte Besitzstände zu retten. So etwas kann keine Gewerkschaft einfach preisgeben. Tarifauseinandersetzungen dieser Art waren aber vor der Globalisierung kaum zu führen. Die Zahl der Arbeitsniederlegungen hat sich also auch deshalb erhöht, weil die Kategorie des "defensiven Streiks" hinzugekommen ist.

Bei der klassischen Lohnrunde hingegen sind die Erwartungen der Mitglieder nicht bloß deshalb gestiegen, weil viele während der vergangenen Rezession erleben mussten, dass ihre Reallöhne sanken - sondern auch, weil sie zur selben Zeit in den Zeitungen lesen konnten, wie in den Manager-Etagen bedenkenlos Gehaltserhöhungen und Aktien-Optionen vergeben wurden. Wenn in einer Firma den Betriebsrentnern das Weihnachtsgeld gestrichen und zur selben Zeit die Bezüge des Vorstandschefs um 30 Prozent erhöht werden, soll sich niemand wundern, wenn das zu Verbitterung führt. Auch auf dieser Grundlage werden in diesem Jahr Tarifverhandlungen geführt.

Wenn nicht jetzt, wann dann - nach dem Motto verhandeln die Gewerkschaften aber noch aus einem anderen Grund: Jetzt oder nie wird es ihnen gelingen, die Entwicklung bei ihren Mitgliederzahlen umzukehren. 6,6 Millionen Arbeitnehmer gehörten Ende 2006 noch einer DGB-Gewerkschaft an, erneut 200 000 weniger als ein Jahr zuvor. Eine Gewerkschaft mag noch so viel an Rechtshilfe und Weiterbildung bieten - attraktiv wird sie dadurch, dass sie viel Geld für die Beschäftigten herausschlägt.

Das Problem dabei ist, dass zwischen Organisationsgrad und Tariferfolg ein direkter Zusammenhang besteht. Je weniger Beschäftigte einer Branche oder eines Unternehmens Mitglieder der Gewerkschaft sind, umso geringer deren Drohpotential.

Die Verhärtungen sind auch darauf zurückzuführen, dass die Gewerkschaften um ihre Zukunft kämpfen - und zwar auch untereinander: Die Avantgarde der Arbeitnehmer, seien es IT-Entwickler, Ingenieure, Piloten oder Ärzte, ist für klassische Gewerkschaften entweder besonders schwer zu erreichen (weil sie glaubt, auch ohne Verdi & Co. auszukommen). Oder diese Berufsgruppen betreiben mittlerweile aggressiv ihre eigene Gewerkschaft und versuchen, auf Kosten anderer das Maximum für sich selbst herauszuholen.

Cockpit und Marburger Bund haben das für Piloten und Ärzte vorgemacht, nun versucht es die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL). Sie kämpft nicht nur gegen den Bahn-Vorstand, sondern auch gegen die beiden großen Bahngewerkschaften Transnet und GDBA, die weiterhin die Interessen unterschiedlichster Berufsgruppen zu bündeln versuchen.

Das Ergebnis all dessen werden längere, härtere Tarifrunden sein. In Lohnabschlüssen dürften Machtverteilungen noch stärker zum Ausdruck kommen, auch innerhalb der Arbeitnehmerschaft. Friseurinnen im Fünf-Mitarbeiter-Betrieb haben nicht annähernd die Durchsetzungsmöglichkeiten wie Lokführer im Großunternehmen.

Jede Gewerkschaft wird mit ihren Möglichkeiten um ihre Zukunft kämpfen. Der Zug wird öfters mal nicht fahren - aber immer noch öfter als in anderen Ländern. In Frankreich fallen je tausend Beschäftigte jährlich 71 Arbeitstage aus, in Spanien 144.

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