Steueraffäre: Interview mit Jean Ziegler:Schweizer Schizophrenie

Wenn das Bankgeheimnis als Menschenrecht gilt: Der streitbare Schweizer Politiker und Autor Jean Ziegler über den Zorn der Bürger auf die Deutschen - und auf die "Geldsäcke aus Zürich".

Hans von der Hagen

Jean Ziegler hat sich als Politiker, Wissenschaftler und Buchautor in der Schweiz viele Feinde geschaffen. Zwei Bücher, eines über Geldwäsche ("Die Schweiz wäscht weißer") und eines über Raubgold ("Die Schweiz, das Gold und die Toten"), führten dazu, dass ihm seine parlamentarische Immunität aberkannt und er neun Mal verklagt und zu hohen Schadenersatzzahlungen verurteilt wurde. Derzeit ist Ziegler Vizepräsident des beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrates. Zuletzt veröffentlichte er das Buch "Der Hass auf den Westen - Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren".

Jean Ziegler, Reuters, AP

Jean Ziegler: "Die ganze Schweiz übt sich in Loyalität im Verhältnis zu den Banken. Das ist ein Feudalverhalten. Es ist der Finanzindustrie gelungen, aus privaten Steuerbetrugsfällen einen interstaatlichen Konflikt zu machen."

(Foto: Foto: Reuters, AP)

sueddeutsche.de: Es wirkt, als ob sich die ganze Schweiz in der Affäre um Steuerdaten über Deutschland empöre. Täuscht der Eindruck?

Jean Ziegler: Es ist der Schweizer Banken-Oligarchie gelungen, das Land bis weit in die Politik hinein zu kolonialisieren. Dass sich nun so viele Menschen in die Abwehrfront gegen die ausländische Kritik einbauen lassen, ist unglaublich. Die ganze Schweiz übt sich in Loyalität im Verhältnis zu den Banken. Das ist ein Feudalverhalten. Es ist der Finanzindustrie gelungen, aus privaten Steuerbetrugsfällen einen interstaatlichen Konflikt zu machen.

sueddeutsche.de: Wie hat sie das geschafft?

Ziegler: Die Sozialkontrolle ist in der Schweiz außerordentlich groß. Wenn es einem Schalterbeamten bei einer Bank einfiele, öffentlich eine andere Meinung zu vertreten, würde er wahrscheinlich gefeuert werden.

sueddeutsche.de: Sie persönlich können ja auch freiweg sagen, was Sie denken. Dürfen das andere nicht?

Ziegler: Ich bin tatsächlich einer der wenigen, die in der Schweiz öffentlich eine andere Meinung vertreten. Ich war Ordinarius und Nationalrat, habe Bücher geschrieben und bin jetzt bei den Vereinten Nationen - da darf man sagen, was man will. Doch die große Mehrheit in der Schweiz will das nicht tun. Vielleicht denken sie das Gleiche, aber sie sagen es nicht.

sueddeutsche.de: Wenn die Schweizer unter sich sind, reden sie dann anders?

Ziegler: Es gibt eine Schizophrenie an den Stammtischen - an denen natürlich nirgends auf der Welt große analytische Vernunft herrscht. Zunächst stimmen alle in die Klagen auf Deutschland ein, weil sie total verunsichert sind. Auch dieses Land leidet unter der Krise. Und dann kommt das typische Geheul: "DIE wollen unsere Banken kaputtmachen." Im nächsten Moment aber beschweren sich die gleichen Leute über die Banker-Halunken.

sueddeutsche.de: Die "Halunken" dürfte allerdings eher auf die Finanzkrise gemünzt sein, nicht auf die Steueraffären in Deutschland und den USA.

Ziegler: Aber es sind Banken, die uns sowohl die Finanzkrise als auch die Steueraffären einbrocken. Der schweizerische Finanzplatz lebt von der Hehlerei, seit Urzeiten. Wenn man Deutschland angreift, verteidigt man implizit die Hehlertätigkeit der Großbanken. Im nächsten Moment aber schlägt man dann auf die Geldsäcke von Zürich ein. Per Notrecht hatte im Oktober 2008 Bundesrat Hans-Rudolf Merz der Großbank UBS sagenhafte 61 Milliarden Franken ohne Einschaltung des Parlaments zugeschaufelt, um deren schlechte Papiere zu übernehmen. Das war Steuergeld! Und dann verteilt dieses verlotterte Institut an seine obersten Missetäter vier Milliarden Franken an Boni, aus Steuergeld. Dagegen schimpfen natürlich die helvetischen Demokraten.

sueddeutsche.de: Mit dem Bankgeheimnis zerbröselt das Geschäftsmodell Schweiz. Hat sich das Land darauf vorbereitet?

Ziegler: In keiner Weise. Hierzulande gilt das Bankgeheimnis als ein Menschenrecht und es ist gleichbedeutend mit der Freiheit der Schweiz. Darum wurde das Ende des Bankgeheimnisses nie ernsthaft ins Kalkül gezogen. Es gibt hier eine Kollektivneurose, die seit langem gepflegt wird: Die Schweizer als auserwähltes Volk. Seit über 200 Jahren hat Europa Fürchterliches erlebt, die Schweiz hingegen gar nichts. Der letzte ausländische Soldat, der 1813 das Land verlassen hat, war ein Soldat Napoleons. Die Herrschaftsklasse ist betonhart, sie hat sich seit über 200 Jahren entwickelt. Sie hat die Schweiz so unglaublich arrogant gemacht.

sueddeutsche.de: Ist die Schweiz nicht weltweit zu gut vertreten, um sich als kleines gallisches Dorf zu fühlen?

Ziegler: Es gibt einen totalen Realitätsverlust. Die herrschende Ideologie ist verlogen, das schweizerische Bankimperium weltumspannend. Die Schweiz ist gemessen am Pro-Kopf-Einkommen das zweitreichste Land der Welt hinter Kuwait. Unser einziger Rohstoff ist das fremde Geld. Es kommt als Mafiakapital aus dem Osten, als Blutgeld aus der südlichen Welt - und es sind die Steuerfluchtmilliarden aus den umliegenden Demokratien. Allein aus Deutschland gibt es viele hundert Milliarden Euro Schwarzgeld. Ein Drittel aller Offshore-Vermögen der Welt werden in der Schweiz verwaltet.

Wie die Schweiz künftig funktioniert

sueddeutsche.de: Zuletzt verstärkte sich der Eindruck, dass die Schweiz sich dem von der EU angestrebten automatischen Informationsaustausch nicht völlig verschließen wird. Vielleicht tut sich mehr, als Sie Ihrem Land unterstellen?

Ziegler: Wenn der freie Informationsfluss käme, hätte sich das Problem der interstaatlichen Beihilfe erledigt. Wenn aber, wie bisher geplant, nur das neue Doppelbesteuerungsabkommen nach OECD-Standard vereinbart wird, fällt zwar die bisherige Unterscheidung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung weg - aber die anderen Ländern wären weiterhin auf Schweizer Rechtshilfe angewiesen.

sueddeutsche.de: Ist das so schlimm?

Ziegler: Der deutsche Fiskus müsste dann weiterhin jeweils einen Prozess in der Schweiz eröffnen, Beweise vorbringen und Konten identifizieren. Das schweizerische Recht kennt acht Rekursmöglichkeiten gegen ein solches Rechtshilfeverfahrens. Schon gegen die Eröffnung können die Delinquenten Einspruch erheben oder gegen die Übermittlung von Dokumenten. Und sie könnten zwischenzeitlich ihr Geld abziehen und woanders hinschaffen. Darum wird auf EU-Ebene gesagt: "Rechtshilfe funktioniert nicht."

sueddeutsche.de: In Liechtenstein wird seit der Steueraffäre vor zwei Jahren umgedacht. Könnte das Land ein Vorbild sein?

Ziegler: Kaum. Liechtenstein ist nur der Zwergsatellit von Zürich. Wenn Banken sich mal nicht trauen sollten, schmutziges Geld in Zürich anzunehmen, gibt es dort zumindest eine Liechtensteiner Adresse. Das Fürstentum ist total in das System eingebunden.

sueddeutsche.de: Was also muss jetzt getan werden?

Ziegler: Die Schweiz müsste mea culpa sagen und die moralisch unhaltbare Situation bereinigen. Die goldenen Zeiten sind vorbei, so kann es in einem vereinigten Europa nicht weitergehen. Das Land müsste den freien Informationsaustausch akzeptieren. Und Schluss.

sueddeutsche.de: Wie würde die Schweiz dann funktionieren?

Ziegler: Sie würde wieder ein anständiges Land werden und die Hypertrophie des Bankenplatzes würde verschwinden. Dann käme der Werkplatz Schweiz zur Geltung, den es ja auch noch gibt. Nur sind seine Interessen bislang denen des Finanzplatzes Schweiz komplett untergeordnet. Die Schweizer können etwas - es gibt hier unglaublich viel technisches und wissenschaftliches Know-how. Es würde eine große Befreiung sein.

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