Start-up:Filme ohne Ende

Kinocharts- 'A Quiet Place'

Eine Szene aus dem Thriller „A Quiet Place“, der von einer Invasion Außerirdischer auf der Erde handelt.

(Foto: Jonny Cournoyer/Paramount Pictures/dpa)

Für zehn Dollar dürfen Kunden des amerikanischen Start-ups Movie-Pass so oft ins Kino gehen, wie sie wollen. Die Nutzer sind begeistert - und Branchenkenner wundern sich.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

"Wir sammeln unglaublich viele Informationen. Wir haben deine Adresse und wissen deshalb natürlich auch, wie der Haushalt aufgebaut ist: Kinder, Altersgruppen, Einkommen. Wir beobachten dich dabei, wie du von daheim ins Kino fährst. Wir wissen, welche Filme du guckst. Wir beobachten dich dabei, wohin du danach fährst. Wir wissen alles über dich."

Nein, das ist nicht der Beginn eines Horrorfilms über einen gruseligen Stalker, und es ist auch nicht das, was Facebook-Gründer Mark Zuckerberg bei seiner Kongressanhörung ehrlicherweise über sein Unternehmen hätte sagen sollen. Es sind die Worte von Mitch Lowe, er hat sie vor ein paar Wochen beim Entertainment Finance Forum in Hollywood gesagt. Der Titel seines Vortrags: "Data is the New Oil" - Daten sind das neue Öl. Lowe ist der Chef von Movie-Pass, er möchte mit seiner Firma die Filmbranche revolutionieren oder vielleicht sogar retten. Vielleicht ist er aber auch einfach nur ein gruseliger Stalker.

Das Unternehmen präsentiert sich als Netflix der Kinobranche: Wer 9,95 Dollar pro Monat bezahlt, der darf jeden Tag einen Film im Kino gucken. Wer zum Beispiel in dieser Woche das Actionspektakel "Rampage", den Thriller "A Quiet Place" und die Komödie "I Feel Pretty" sehen will, der muss dafür in einer Filiale der Multiplexkette AMC in Los Angeles insgesamt 53,47 Dollar bezahlen. Die Kino-Flatrate von Movie-Pass klingt viel zu schön, um wahr zu sein, und wahrscheinlich ist sie das auch, aber was soll's: Die Nutzerzahlen sind innerhalb eines Jahres von 20 000 auf zwei Millionen gestiegen, bis zum Jahresende sollen es fünf Millionen sein.

Es stimmt schon: Das Geschäftsmodell der Kinobranche erscheint obsolet. Natürlich ist "Rampage" ein bombastisches Leinwand-Spektakel, natürlich ist "A Quiet Place" ein beklemmendes Erlebnis im Kinosaal, aber ist das wirklich jeweils knapp 18 Dollar pro Eintrittskarte wert? Und wer gibt ähnlich viel Geld für einen stillen, suchenden, tastenden Film aus, wenn ein womöglich noch viel schöneres Werk im Zehn-Dollar-pro-Monat-für-die-komplette-Familie-Abo eines Streamingdienstes schon enthalten ist?

Im vergangenen Jahr haben die nordamerikanischen Kinos insgesamt 1,24 Milliarden Tickets verkauft, so wenige wie seit 1995 nicht mehr. Es braucht eine neue Idee, ein neues Modell. Es braucht vielleicht eine Disruption dieser Branche, es ist ein schreckliche Silicon-Valley-Modewort, das in diesem Fall aber so treffend ist wie kein anderer Ausdruck.

Es gibt nun die einen, die Movie-Pass als notwendigen Maßnahme, als sogenannten Low-End-Disruptor, feiern, der die Industrie mit günstigen Preisen aufmischt und letztlich eine Revolution einleitet. Die Kunden profitieren, weil sich eine Mitgliedschaft oftmals schon beim ersten Film rentiert. Die Kinobetreiber profitieren, weil sie den vollen Eintrittspreis bekommen (der wird auf die Bezahlkarte geladen, sobald sich die Nutzer für Film und Startzeit entscheiden) und zusätzliche Einnahmen über den Verkauf von Essen und Getränken generieren. Es profitieren all jene Filmemacher, deren Werke vom Vermarktungsbudget her nicht mit den wahnwitzig beworbenen Blockbustern mithalten können und die aufgrund der Flatrate nun mehr Zuschauer erreichen.

Aber wie profitiert eigentlich Movie-Pass?

Bei seinem Vortrag im März sagte Lowe, dass sein Unternehmen bis zum Ende des Jahres für 20 Prozent aller Kinobesucher in den USA verantwortlich sein will - das wären, nimmt man die Besucherzahlen von 2017 als Referenzgröße, etwa 20,7 Millionen Tickets pro Monat. Eine Eintrittskarte in den USA kostet laut der Vereinigung der amerikanischen Kinobetreiber durchschnittlich 8,97 Dollar. Movie-Pass würde also pro Monat 185,67 Millionen Dollar bezahlen, über die prognostizierten fünf Millionen Abonnenten aber lediglich knapp 50 Millionen Dollar einnehmen.

"Das kann nicht funktionieren, sie verbrennen ganz offensichtlich bereits jetzt unglaublich viel Geld - das Geschäftsmodell macht keinen Sinn", sagt der Medienexperte Michael Pachter von der Analysefirma Wedbush Securities. In der vergangenen Woche veröffentlichte der börsennotierte Mutterkonzern Helios & Matheson die Zahlen für das vergangene Geschäftsjahr. Einnahmen im Jahr 2017: 10,4 Millionen Dollar. Verlust: 150,8 Millionen Dollar. "Es ist möglich, dass es Nutzer gibt, die den Service missbrauchen", sagt Pachter: "Sie melden sich an und gucken innerhalb kurzer Zeit möglichst viele Filme, dann melden sich wieder ab."

Es gäbe mehrere Möglichkeiten, die Verluste einzudämmen: eine Begrenzung auf vier Filme pro Monat etwa, ein Premium-Abo für Filme in 3D oder in Kinosälen mit bequemeren Sitzen oder Werbegelder von Produzenten. Möglich wäre auch ein Rabatt von den Kinobetreibern oder eine Beteiligung am Getränkeverkauf, allerdings sagte AMC-Chef Adam Aron vor einigen Monaten ziemlich deutlich: "Wir haben nicht die geringste - ich wiederhole: nicht die geringste - Absicht, irgendwelche - ich wiederhole: irgendwelche - Einnahmen mit Movie-Pass zu teilen." In Europa experimentiert die Kette Cineworld mit einer eigenen Flatrate für 22 Dollar pro Monat. Es heißt, dass auch amerikanische Kinobetreiber über so ein Angebot nachdenken würden.

Für Movie-Pass bleibt die Möglichkeit, die Zahl der Nutzer weiter zu steigern mit diesem Angebot, das zu schön ist, um wahr zu sein, aber auch zu attraktiv, um es zu ignorieren. Wenn eine kritische Masse erreicht ist, dürften sich auch die mächtigsten Kinobetreiber nicht mehr weigern können, mit dem Unternehmen zu kooperieren. Im Januar hat das Unternehmen drei Monate lang zehn AMC-Filialen mit besonders hohen Preisen aus der App entfernt. Man habe nur das Kundenverhalten testen wollen, hieß es in einem Statement.

Experten glauben jedoch, dass dies eine unmissverständliche Botschaft an AMC gewesen sei, an den Verhandlungstisch zurückzukehren für ein Angebot, das die Kinokette nicht ablehnen kann.

Es gibt natürlich auch die Möglichkeit, die Nutzerdaten zu monetisieren. Das Unternehmen hat die markigen Worte von Mitch Lowe auch wegen des Facebook-Datenskandals mittlerweile als Missverständnis bezeichnet. "Viele Leute glauben nicht, dass es ein Missverständnis war", sagt jedoch Pachter: "Das Unternehmen steht nun im Rampenlicht, ob es Daten ohne Zustimmung der Nutzer sammelt oder ungebührlich verwendet." Movie-Pass beteuert, die Daten lediglich zu sammeln, um den Nutzern einen möglichst guten Kinoabend zu ermöglichen.

Genau das übrigens hat Netflix vor einigen Jahren behauptet, als es die TV-Branche revolutioniert hat: Daten sammeln zum Wohle der Nutzer. Der Streamingdienst ärgert auch die Kinobranche, der Hundert-Millionen-Blockbuster "Bright" etwa lief kurz vor Weihnachten nicht auf der großen Leinwand, sondern erreichte auf Netflix innerhalb von drei Tagen elf Millionen Amerikaner. Das hätte locker für Platz eins der amerikanischen Kinocharts gereicht.

Es gibt nun Gerüchte, dass Netflix mit Movie-Pass kooperieren oder die Firma gar kaufen möchte. Beide Unternehmen wollen sich nicht äußern. Movie-Pass-Chef Lowe war vor 20 Jahren einer der ersten Manager beim damaligen DVD-Versand und ist noch immer bestens mit Netflix-Chef Reed Hastings bekannt.

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