Stahlindustrie:Die große Schmelze

Stahlproduktion

Ein Stahlarbeiter in einem Werk von Thyssen-Krupp in Duisburg.

(Foto: Bernd Thissen/dpa)

Viele Branchen hängen an dem Industriezweig. Hat dieser ein Problem, kann dies auch andere Firmen mit runterziehen. Wie schnell das geht, zeigt das Beispiel Großbritanniens.

Von Varinia Bernau, Björn Finke, Düsseldorf/London

Für ihren Protest haben die Arbeiter einen symbolischen Ort gewählt: Vor Deutschlands größtem Stahlwerk in Duisburg erwartet die IG Metall an diesem Montag Tausende zur Demo - und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Auf ihn setzt die Industrie derzeit all ihre Hoffnungen. Denn das Dilemma, in dem die Unternehmen stecken, können sie nicht allein lösen. "Wir wollen keine Geschenke, aber einen fairen Wettbewerb. Und das, was da derzeit passiert, verzerrt den Wettbewerb", sagt etwa Frank Schulz, der für den weltweit größten Stahlkonzern Arcelor Mittal das deutsche Geschäft führt.

Auf dem Spiel steht weitaus mehr als nur der Stahl und die 100 000 Jobs, für die diese Schlüsselindustrie allein in Deutschland sorgt. Stahl ist auch der meistgenutzte Rohstoff in der Fertigung. Er steckt in Autos und Maschinen, in Windenergieanlagen und Brücken. Jeder Euro Verlust, den die Stahlindustrie schreibt, verursache einen Verlust von acht Euro in anderen Branchen, hat das Wirtschaftsforschungsunternehmen Prognos vor Kurzem in einer von der Wirtschaftsvereinigung Stahl in Auftrag gegebenen Studie errechnet. Und zwar nicht nur bei Zulieferern wie Energieerzeugern und bei Kunden wie Autobauern. Auch der Dienstleistungssektor spürt den Druck: Wer sein Geld zusammenhält, weil er um seinen Job fürchtet, spart sich auch den Einkaufsbummel oder den Abend im Restaurant.

Staatlich subventionierte chinesische Hütten fluten den europäischen Markt mit Billigstahl, seit sie in der Heimat wegen der schwächelnden Konjunktur weniger verkaufen. Und seit die USA ihren Markt mit hohen Schutzzöllen abgeschottet haben. Zwar hat auch die EU einzelne Stahlsorten aus China bereits mit Zöllen verteuert, doch diese sind deutlich niedriger als die amerikanischen. Und wenn die EU China Ende des Jahres wirklich als marktwirtschaftlichen Staat anerkennt, dann könnte dieser Schutzmechanismus noch weiter aufgeweicht werden. Die Lobbyisten setzen derzeit alles daran, dass es nicht so weit kommt.

Immerhin, die hiesigen Stahlunternehmen haben Gabriel auf ihrer Seite. Dass mit Salzgitter der zweitgrößte deutsche Stahlhersteller, der in den vergangenen Jahren bereits Hunderte Jobs streichen musste, seinen Sitz im Wahlkreis des Ministers hat, dürfte ein Grund dafür sein, warum dieser ein offenes Ohr für die Sorgen der Stahlwirtschaft hat. Die Kanzlerin, so ist in der Branche zu hören, sei dagegen weniger aufgeschlossen.

In Brüssel wird derzeit auch darüber verhandelt, die Verschmutzungsrechte, wie sie die Stahlindustrie mit ihrem hohen Ausstoß klimaschädlichen Kohlendioxids benötigt, zu verteuern. Während die Erzeuger in China nichts für diese Emissionen zahlen müssen, will Brüssel die Abgaben für die europäischen Unternehmen von 2021 an noch erhöhen. Setzt sich die Kommission mit ihrem Vorschlag durch, kämen allein auf Thyssen-Krupp im Laufe von neun Jahren zusätzliche Belastungen von bis zu drei Milliarden Euro zu, rechnet Konzernchef Hiesinger vor. "Das ist eine Dimension, die wir schlichtweg nicht stemmen können", sagte er auf der Hauptversammlung. Prognos schätzt, dass allein die Pläne der EU-Kommission zum Emissionsrechtehandel bis 2030 einen Abbau von 37 000 Arbeitsplätzen in der deutschen Stahlindustrie bedeuten würde. Hat Prognos mit den Auswirkungen auf andere Branchen recht, stünden 380 000 Jobs auf der Kippe.

Europas Konzerne wollen eine umweltfreundlichere Produktion. China will vor allem Profit

Dabei könnten die europäischen Politiker mit den strengeren Auflagen für die hiesigen Stahlwerke dem Klimaschutz eher schaden als nutzen: Denn in Europa stehen die deutlich effizienteren Werke. Bei der Produktion einer Tonne Stahl in China werden Schätzungen zufolge im Schnitt 400 Kilogramm mehr Kohlenstoffdioxid in die Luft geblasen als in europäischen Werken. In Europa wird auch daran geforscht, die Hüttengase zu Dünger weiterzuverarbeiten - und damit noch weniger Kohlendioxid in die Luft zu pusten. Derzeit werden sie meist auf dem Betriebsgelände verbrannt, um so Strom für die Stahlwerke zu erzeugen. Doch in der Industrie lassen sich solche Verfahren erst in 15 Jahren einsetzen, heißt es in der Branche. "Wir brauchen die Luft, um uns in diese Richtung zu entwickeln", sagt der Arcelor-Mittal-Manager Schulz. "Wenn wir ausbluten, wer soll die Lösungen für eine umweltfreundlichere Stahlproduktion dann bringen?"

Ob Demonstrationen an den Werkstoren oder Rechenspiele zum volkswirtschaftlichen Schaden: Das alles soll den Druck auf die Politiker in Brüssel erhöhen. Aber was, wenn sie nicht reagieren? Oder auch nur: zu langsam?

Was passieren kann, wenn die Politik der Industrie die Hilfe verwehrt, zeigt ein Blick nach Großbritannien: Dort will der indische Tata-Konzern seine drei Stahlwerke und die diversen Fabriken auf der Insel, die den Stahl weiterverarbeiten, loswerden. An diesem Montag soll der Verkaufsprozess starten. Findet sich kein Interessent, droht den 15 000 Beschäftigten der Gang zum Arbeitsamt. Ein Aus für Großbritanniens größten Stahlproduzenten würde zudem 25 000 Jobs bei Zulieferern gefährden, schätzen Fachleute.

Dass Tata wie die gesamte Branche in Problemen steckt, war bekannt. Nur der Zeitpunkt der düsteren Ankündigung vor knapp zwei Wochen überraschte: Premierminister David Cameron weilte im Urlaub auf Lanzarote, Wirtschaftsminister Sajid Javid war zum Staatsbesuch nach Australien gejettet. Und in Großbritannien bangte eine ganze Industrie um ihre Zukunft: Das Fernsehen zeigte wieder und wieder die noch rauchenden Schlote von Port Talbot in Wales und die besorgten Mitarbeiter. Der Chef der walisischen Regionalregierung forderte kurzerhand die Verstaatlichung der Fabrik, die vier Millionen Tonnen Stahl im Jahr fertigt, ein Drittel der britischen Produktion. Die Aussichten, dass diese Forderung in die Tat umgesetzt wird, sind jedoch äußerst gering.

Thyssen-Krupp lotet Chancen zur Zusammenarbeit aus, zum Beispiel mit Tata

Das Pikante daran: Die britische Regierung gehört zu denen, die in Brüssel am lautesten gegen Zölle auf chinesischen Stahl zu Dumpingpreisen wettern, weil sie nicht will, dass in der EU Protektionismus um sich greift. Hinzu kommt: Zwar genießen Industriekonzerne, die viel Strom verbrauchen, auch im Königreich Erleichterungen bei den Abgaben für Öko-Energie. Aber diese Regelungen sind weitaus weniger großzügig als in Deutschland. Deswegen zahlen Großverbraucher auf der Insel gut doppelt so hohe Strompreise wie im Durchschnitt der EU. In Deutschland ringen die Stahlmanager derzeit darum, dass die nur noch bis Ende des Jahres geltenden Erleichterungen bei der Eigenstromerzeugung fortgeschrieben werden.

Weil sie sich auf die Politiker allein nicht verlassen können, loten die Unternehmen auch Möglichkeiten für Zusammenschlüsse aus. Thyssen-Krupp-Chef Hiesinger hat seine Bereitschaft zu solchen Partnerschaften bereits signalisiert - und unterdessen den Wert seiner Werke gesteigert. So hätte er, wenn es zu einem Joint Venture kommt, das Sagen. Als möglicher Partner gilt auch Tata. Das verlustreiche Werk in Port Talbot wollen die Inder zwar loswerden. In den Niederlanden unterhält Tata dagegen ein modernes Stahlwerk. Und das ist recht nah am Thyssen-Krupp-Werk in Duisburg, dessen Produktion zur Hälfte in einem Radius von 500 Kilometern verkauft wird. Würden sich beide Unternehmen zusammentun, könnten sie Schätzungen zufolge jährlich 300 Millionen Euro an Kosten bei der Belieferung mit Rohstoffen und dem Abtransport des gefertigten Stahls sparen.

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