Spitzelskandal bei Lidl:"Einschüchterung ist gängige Praxis"

Der Gewerkschafter Achim Neumann über die zweifelhaften Methoden von Billiganbietern, die Ohnmacht der Beschäftigten - und warum Lidl kein Einzelfall ist.

Silvia Liebrich

Die Bespitzelung von Mitarbeitern wie bei Lidl ist nach Erkenntnissen der Gewerkschaft Verdi in der Branche weit verbreitet. Das Register der Schikanen ist vielfältig, sagt Achim Neumann, Handelsexperte der Gewerkschaft. "Wo es keine Betriebsräte gibt, sind der Willkür Tür und Tor geöffnet", stellt er fest.

SZ: Herr Neumann, ist der Fall Lidl ein Einzelfall oder gibt es diese Probleme auch bei anderen Billiganbietern?

Neumann: Was jetzt bei Lidl bekannt geworden ist, kommt auch bei anderen Discountern vor. Wir wissen dies aus Beobachtungen und Erzählungen von Mitarbeitern. Das Besondere am Fall Lidl ist, dass eine Bespitzelung von Mitarbeitern in diesem Umfang erstmals belegt werden konnte. Viele Betroffene schildern uns zwar solche Vorfälle, wollen dann aber nicht genannt werden, weil sie um ihren Job fürchten. Dann sind die Vorwürfe nicht verwendbar.

SZ: Wie können sich Lidl-Beschäftigte, die von der Bespitzelung betroffen sind, zur Wehr setzten?

Neumann: Sie können vor Gericht ziehen und vom Unternehmen Schadensersatz verlangen. Dabei werden wir sie als Gewerkschaft selbstverständlich unterstützen. Kollektives Arbeitsrecht gibt es dagegen kaum, weil es kaum Betriebsräte in den Filialen gibt. Inzwischen ermittelt auch der Datenschutz gegen Lidl. Dessen Möglichkeiten sind jedoch beschränkt. Für Verstöße gegen den Datenschutz ist die Höchststrafe ein Bußgeld in Höhe von 250.000 Euro. Das ist ein Witz. Ein großes Unternehmen wie Lidl zahlt das aus der Portokasse.

SZ: Bei vielen Discountern gibt es keine Mitarbeitervertretung, ist das der Grund, warum so gezielte Übergriffe auf das Personal überhaupt möglich sind?

Neumann: Ja. An erster Stelle sind hier Aldi, Lidl sowie Schlecker zu nennen. Wo es keine Betriebsräte gibt, sind der Willkür Tür und Tor geöffnet. In Unternehmen mit Betriebsräten wäre das nicht so einfach möglich. Hier unterliegen beispielsweise Einrichtung von Videoanlagen oder anderen technischen Überwachungsanlagen der Mitbestimmung. Das heißt, der Unternehmer braucht dafür das Einverständnis der Betriebsräte. Die tragen dafür Sorge, dass weder die Leistung noch das Verhalten einzelner Mitarbeiter bis in die Intimsphäre hinein ausspioniert werden.

SZ: Die Gründung von Betriebsräten wird bei Lidl und Co. systematisch verhindert. Wie gelingt ihnen das?

Neumann: Die Firmen versuchen von vornherein, die Wahl von Betriebsräten zu verhindern. Dort, wo es sie schon gibt, werden sie zerschlagen. So hat Lidl vor zwei Jahren in Calw bei Stuttgart eine der wenigen Filialen mit Betriebsrat geschlossen, obwohl Gewinne erzielt wurden. Die Beschäftigten wurden entlassen. Offiziell hieß es, die Entscheidung sei wirtschaftlich notwendig. Mehr wurde nicht gesagt und muss auch nicht gesagt werden. Ein Unternehmer kann mit seinem Eigentum machen, was er will. Der Fall hatte auch eine psychologische Wirkung für Beschäftigte in anderen Filialen. Die Botschaft lautete: Gründe einen Betriebsrat und wir schließen dir die Filiale über dem Kopf.

SZ: Das heißt, Mitarbeiter werden gezielt eingeschüchtert, um Betriebsratswahlen zu verhindern?

Neumann: Einschüchterung ist bei Discountern gängige Praxis. Ein solcher Fall, der die Drogeriemarktkette Schlecker betrifft, wurde vor kurzem vor dem Landgericht Marburg verhandelt. Schon im Vorfeld einer Betriebsratsgründung wurden Mitarbeiter massiv unter Druck gesetzt. Es wurde auch mit Kündigung gedroht. Das Gericht verurteilte die Vorgesetzten unter anderem wegen versuchter Nötigung.

SZ: Auch das Bespitzeln von Mitarbeitern ist illegal. Welche unsauberen Praktiken werden sonst noch angewandt?

Neumann: Dazu gehört die gezielte Prüfung, ob arbeitsvertragliche Pflichten eingehalten werden, auch mit unfairen Mitteln. Das geschieht etwa mit Hilfe von Testkäufen. Bei Schlecker ist eine ganze Mannschaft damit beschäftigt. Seit kurzer Zeit gibt es dort auch den sogenannten Testdiebstahl. Es wird organisiert geklaut, vom Unternehmen angestiftet. Damit soll getestet werden, ob die Mitarbeiter den Diebstahl bemerken und wie sie darauf reagieren. Die Art und Weise, wie das geschieht, ist unvorstellbar. So wird etwa im Einkaufskorb unter Großpackungen mit Wasserflaschen ein kleiner Plastikkamm versteckt und an der Kasse vorbeigeschmuggelt oder der Inhalt von Wodka-Flaschen durch andere Flüssigkeiten ersetzt. Die Verantwortlichen treten anschließend als Kontrolleure auf.

SZ: Warum herrschen in der Branche so harte Sitten?

Neumann: Unter den Discounter tobt ein gnadenloser Krieg um Marktanteile. Der wird im wesentlichen über den Preis ausgetragen und dazu zählen auch die Personalkosten. Es wird also versucht, mit möglichst wenig Personal auszukommen. Auf denjenigen, die dort arbeiten, lastet daher ein ungeheurer Druck. Es herrscht ein Klima der Angst. Besonders groß ist der Druck in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit. Wer einen Arbeitsplatz hat, will ihn keinesfalls gefährden.

SZ: Gibt es positive Beispiele in der Branche, die zeigen, dass man auch mit fairen Methoden Geld verdienen kann?

Neumann: Sicher. Bleiben wir im Drogeriebereich. Hier zeigen etwa die Ketten dm und Rossmann, dass man auch mit einem ganz anderen Führungsstil erfolgreich sein kann. Hier werden Mitarbeiter fair behandelt und motiviert.

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