Soziologe Ulrich Beck:"Merkel greift in die Kostümkiste"

Soziologe Ulrich Beck geißelt die nostalgische Politik von Kanzlerin Merkel - und die Ökonomie als Ursache der Finanzkatastrophe.

A. Hagelüken und A. Mühlauer

Ulrich Beck, 65, empfängt in einem Stadthaus am Englischen Garten. "Auf der anderen Straßenseite wohnte einst Max Weber", sagt er und schmunzelt. Lange Zeit erforschte Beck von München aus, was moderne Gesellschaften umtreibt. Heute lehrt der Soziologe an der London School of Economics und in Harvard.

Ulrich Beck, Foto Regina Schmeken

Eine Reform der Marktwirtschaft muss her - sagt Soziologe Ulrich Beck.

(Foto: Foto: Regina Schmeken)

SZ: Herr Beck, reden wir über Geld. Die Finanzkrise brachte die Welt ins Wanken. Wie sehr verändert sie unsere Wohlstandsgesellschaft?

Beck: Die Deutschen haben seit 1945 die Erfahrung gemacht, dass Demokratie reich macht. Also akzeptierten sie diese Staatsform, sie brachte ja Wohlstand für alle. Spätestens in der Krise merken die Bürger, dass die Wirtschaftswunder-Republik Vergangenheit ist. Und sie erkennen, wie unsicher ihr Leben wird.

SZ: Woran zeigt sich das vor allem?

Beck: Für viele Generationen war ein fester Arbeitsplatz normal. Das ist vorbei. Junge Menschen müssen die Erfahrung machen, dass heute nichts so gewiss ist wie ein unsicherer Job - das prägt eine ganze Generation. Die Unsicherheit wird zum Bestandteil des Selbstbildes.

SZ: Was macht diese Unsicherheit aus den Menschen?

Beck: Die Unberechenbarkeit der eigenen Biographie nimmt ein Ausmaß an, das niemand vorhersah. Das Überraschende ist, dass sich die junge Generation schneller an die Unsicherheit gewöhnt als wir Soziologen es für möglich hielten.

SZ: Das klingt positiv: Die Menschen arrangieren sich mit etwas, das sie kaum ändern können.

Beck: Das Problem sind die eindeutigen Verlierer. Ein Hauptschulabschluss bietet keinen Zugang mehr zum Arbeitsmarkt. Das war doch früher unvorstellbar, dass einen ein Bildungsabschluss aus der Gesellschaft ausschließt!

SZ: Selbst Akademiker machen immer häufiger die Erfahrung, dass die Gesellschaft ihre Arbeitskraft nicht braucht.

Beck: Ja. Auch in der Mittelschicht lösen sich sozialversicherungspflichtige Berufsverhältnisse immer mehr auf. Trotzdem geht es Akademikern besser als der Masse. Sie können die Chancen der Globalisierung wahrnehmen und in anderen Ländern arbeiten.

SZ: Aber die meisten scheitern doch an der Sprachbarriere.

Beck: Das gilt für Nicht-Akademiker noch mehr. Sie können die Chancen der Globalisierung im Ausland nicht wahrnehmen, spüren aber hierzulande die Konkurrenz. Selbst viele Friseure geraten durch billige Rivalen aus Osteuropa in die Defensive. Daraus entstehen gefährliche Tendenzen. In Untersuchungen stellen wir eine zunehmende Fremdenfeindlichkeit fest.

SZ: Es heißt immer, die Menschen würden sich in wirtschaftlich schweren Zeiten mehr auf das Privatleben fixieren.

Beck: Unsicherheit im Job wird über Familie und Freundschaften kompensiert. Aber da gibt es Widersprüche. Umfragen belegen eine Romantisierung der Ehe und Partnerschaft, in der Realität steigt aber die Scheidungsrate. Bewusstsein und Handeln fallen auseinander.

"Angela Merkel denkt viel zu national"

SZ: Wie erklären Sie das?

Beck: Aufgrund der Unsicherheit wegen Terrorismus, Klimawandel und Finanzkrise nimmt die Sehnsucht nach dem einen, einzigen Lebenspartner zu. Aber sie ist schwer zu realisieren, weil Menschen immer individueller werden. Die Grundlage dafür bildete schon unser Rechts- und Sozialsystem: In unseren Gesetzen steht seit jeher das Individuum im Mittelpunkt, nicht die Gemeinschaft.

SZ: Wie schaffen es Menschen trotz Individualisierung zusammenzuleben?

Beck: In Partnerschaften muss man versuchen, die eigene Individualisierung mit der des anderen irgendwie in Einklang zu bringen.

SZ: Soweit die Theorie. Wie ist es bei Ihrer Frau und Ihnen?

Beck: Wird sind beide viel unterwegs. Meine Frau sagt: Wenn wir nicht mehr in der Lage sind, zu Hause unsere Blumen zu gießen, läuft etwas schief in der Beziehung. Welke Blumen, welke Liebe.

SZ: Wie oft gießen Sie?

Beck: (lacht) Der entscheidende Punkt für ein Paar ist, ständig im Gespräch zu bleiben, ohne jeden Kleinkram zu thematisieren - das hält ja keiner aus.

SZ: Was ist überhaupt ein Paar?

"Erst beim Waschmaschinenkauf wird man zum Paar."

Beck: Wir Soziologen haben eine schöne Definition: Erst wenn sich zwei Leute eine Waschmaschine kaufen, sind sie ein Paar. Warum? Über schmutzige Wäsche zu verhandeln, ist peinlich. Der eine findet, das muss man noch nicht waschen, der andere besteht darauf, Unterhosen zu bügeln. Erst, wenn sich zwei Menschen über die schmutzige Wäsche einig sind, haben sie eine Grundlage.

SZ: Es sprach der Paartherapeut Ulrich Beck. Wollten Sie eigentlich je etwas anderes werden als Professor?

Beck: Ich habe biographisch alle möglichen Ideologien durchlebt. Mein Vater war Marine-Offizier und wollte mich auf seine Seite ziehen; die war stark am Nationalsozialismus orientiert. Dann war ich als 18-jähriger Austausch-Schüler in Amerika, in einem religiös-fundamentalistischen Haushalt im Mittleren Westen. Die verschiedenen Ideologien trieben mich um, ich wollte festen Boden unter den Füßen kriegen. Also studierte ich Philosophie, dann Soziologie.

SZ: Warum schwurbeln viele Soziologen so herum, dass kein Mensch ihre klugen Gedanken kapiert?

Beck: Das verstehe ich auch nicht. In England oder den Vereinigten Staaten versuchen sich Soziologen ganz einfach auszudrücken. In Deutschland versucht man durch Komplexität Kompetenz zu simulieren. O Gott, jetzt mache ich mich wieder unbeliebt.

SZ: Bei uns nicht. Ihr Buch "Risikogesellschaft" war für ein Soziologie-Buch ein Bestseller. Was bringt das finanziell?

Beck: Ich habe allein in Deutschland 160.000 Stück verkauft. Aber es bringt nicht so viel. Es war ja von Anfang an ein Taschenbuch, heute kostet es 12,50 Euro, davon bekomme ich etwa sechs Prozent.

"Ich bin chronisch risikoscheu."

SZ:Immerhin. Was machen Sie mit Ihrem Geld?

Beck: Ich bin Beamter und chronisch risikoscheu. Ich traue mich nicht, mein Geld in Aktien zu investieren. Die Geschichte hat es gezeigt: Die Wirtschaft bricht doch immer wieder zusammen.

SZ: Sie verzichten auf Rendite und klammern sich an Festgeld.

Beck: Oder eine Eigentumswohnung. Die übersteht jede Krise.

SZ: Was hat die Welt aus Ihrer Sicht aus der Krise gelernt?

Beck: Zu wenig. Der angelsächsische Kapitalismus ist in einer Legitimationskrise. Jetzt wäre der Moment, um das europäische Modell zu stärken und auszubauen. Helmut Kohl hätte die Nase dafür gehabt und gesagt: Die Krise ist die Stunde Europas. Angela Merkel aber tritt auf die Bremse, sie denkt viel zu national.

SZ: Die Bundeskanzlerin betont, die Marktwirtschaft müsse wieder sozialer werden. Ist das nichts?

Beck: Ich bin erstaunt, wie sehr Angela Merkel noch immer im nationalen Container lebt. Sie greift in die Kostümkiste des Biedermeier und versucht die Welt mit einer nostalgischen Agenda zu beglücken. Wir Deutschen tun so, als könnten wir noch immer auf Ludwig Erhards soziale Marktwirtschaft zurückgreifen.

Warum Marktliberale zu nett behandelt werden

SZ: Aber die war für eine eher national ausgerichtete Volkswirtschaft vor der Globalisierung gedacht.

Beck: Genau. Und deshalb taugt sie in dieser Form als Modell nicht mehr.

SZ: Gibt es für Sie eine radikale Alternative zum marktliberalen System?

Beck: Darüber macht sich niemand Gedanken! Als der Kommunismus zusammenbrach, gab es eine klare Alternative: die Marktwirtschaft. Heute sucht US-Präsident Obama vielleicht eine Alternative, aber er findet keine Wirtschaftsberater, die ihm den Weg weisen. Also muss er wieder die Wall-Street-Jungs nehmen, einfach, weil es keine anderen gibt.

SZ: Sehen Sie es ein, Herr Soziologe: Es gibt keinen solide ökonomisch begründeter Ersatz für die Marktwirtschaft.

Beck: Das ist mir zu einfach. Die marktliberalen Ökonomen werden viel zu nett behandelt, auch, was ihre Schuld an der Finanzkrise betrifft. Immer wird auf die bösen Banker eingedroschen. Dabei pflegen Ökonomen bis heute die Illusion, dass sie Risiken vorausberechnen können. So ein Blödsinn! Stattdessen sind den Banken all die Risiken der Giftpapiere um die Ohren geflogen und die Finanzkrise begann. Die Ökonomie ist selbst eine Ursache der Katastrophe!

Die Risiken unserer Zeit sind global

SZ: Sie versuchen in letzter Zeit, auf die globalisierte Welt mit einem globalen Modell zu reagieren. Können Sie das ohne Soziologendeutsch erklären?

Beck: Ob Finanzkrise, Terrorismus oder Klimawandel - die Risiken unserer Zeit sind global. Um eine politische Antwort auf die Risiken dieser Welt zu finden, muss es gelingen, Kants Vision des ewigen Friedens ein Stück weiter zu verwirklichen. Das gelingt aber nur, wenn man eine kosmopolitische Perspektive einnimmt. Im Endeffekt geht es darum, internationale politische Institutionen der Friedensstiftung zu schaffen.

SZ: Wenn sich die Weltgemeinschaft an einem globalen Klima- oder Handelsabkommen versucht, kommt meist wenig heraus. Laufen Sie nicht Gefahr, zu hoch zu greifen und am Ende nichts in der Hand zu haben? Es wäre doch besser, erst mal etwas aus einem starken Europa heraus zu entwickeln.

Beck: Ich bin ja für mehr Europa! Aber jetzt, da der Euro droht zusammenzubrechen, tut Frau Merkel so, als ob uns das nichts anginge. Unsere Entscheidungsträger müssen endlich anfangen, auf europäischer Ebene zu denken.

SZ: Was stellen Sie sich genau vor, um etwa die Unsicherheit im Arbeitsleben zu verringern?

"Der Kapitalismus muss reformiert werden."

Beck: Zum Beispiel stelle ich mir Mindestlöhne vor. Aber damit die richtig wirken, müssen sie auf europäischer Ebene vereinbart werden. Es braucht transnationale Anstrengungen. Aber das kapiert Frau Merkel ja nicht.

SZ: Sie kapiert es schon, aber sie hat Angst, ihre Wähler mit dem Ungetüm Europa zu verschrecken, das für viele nach Bürokratie klingt.

Beck: Mag sein. Aber es geht jetzt darum, den Kapitalismus zu reformieren - und zwar mit sozialem Antlitz. Jetzt haben wir die historische Chance, eine Vision für ein soziales und ökologisches Europa zu entwickeln. Wenn wir die verspielen, geht es weiter abwärts.

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