Sozialleistungen für EU-Bürger:Freizügigkeit, die sie meinen

  • Der Europäische Gerichtshof (EuGH) befasst sich erneut mit der Frage, ob arbeitsuchende EU-Bürger in Deutschland Anspruch auf Sozialleistungen haben, wenn diese der Existenzsicherung dienen oder einen Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern.
  • In dem Fall geht es um Zuwanderer, die sich mit Kurzzeitjobs über Wasser halten.
  • Die Verhandlung kreiste um die Frage, ob es sich bei Hartz IV um bloße Existenzsicherung handele oder ob damit auch der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert werden solle.
  • Letztlich gilt es, Leitbegriffe wie Freizügigkeit mit Leben zu füllen.

Von Wolfgang Janisch

Das Urteil aus Luxemburg hatte für Erleichterung gesorgt, jedenfalls bei denen, die bereits eine düstere Entwicklung heraufziehen sahen, die dunkle Seite Europas sozusagen - Sozialtourismus, Armutszuwanderung. Am 11. November des vergangenen Jahres entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Fall Dano: Deutschland darf arbeitslosen EU-Zuwanderern Hartz-IV-Leistungen verweigern. Jedenfalls dann, wenn die Betroffenen nur wegen der Sozialleistungen nach Deutschland gezogen sind.

Könnte sein, dass die Freude verfrüht war. Denn das Urteil vom 11. November war nur die Ouvertüre. Im November hatte das Gericht über einen eher untypischen Fall einer arbeitslosen Rumänin aus Leipzig zu entscheiden, die sich nie um Arbeit bemüht hatte. Ihren Anspruch abzuweisen, war nach europäischem Recht vergleichsweise einfach, weil die EU-Richtlinie zur Freizügigkeit von Unionsbürgern eine Klausel zur Verhinderung von Sozialmissbrauch enthält. Also eine Ouvertüre in Dur, wenn man es aus Sicht der deutschen Regierung sieht.

Doch an diesem Dienstag öffnete sich in Luxemburg der Vorhang zum ersten Akt; verhandelt wurde der Fall Alimanovic. Das Urteil wird erst in einigen Monaten verkündet, aber es könnte gut sein, dass nun in Moll gesungen wird. Dass Zuwanderer von Hartz-IV-Leistungen ausgeschlossen werden können, wenn sie zur Arbeitsuche nach Deutschland gekommen sind - diese Position dürfte nach der Verhandlung des EuGH wackelig geworden sein.

Kurzzeitjobs reichen nicht, sagt das Jobcenter

Im Fall Alimanovic geht es um Zuwanderer, die sich mit Kurzzeit-Jobs über Wasser halten. Die Klägerin - Bürgerkriegsflüchtling aus Bosnien - hatte schon in den Neunzigerjahren in Deutschland gelebt, drei ihrer Kinder sind hier geboren. Im Jahr 2000 zog sie nach Schweden, 2005 wurde sie schwedische Staatsbürgerin - doch nach der Trennung von ihrem Mann kehrte sie nach Deutschland zurück. Seit Mitte 2010 hatten sie und ihre älteste Tochter immer wieder für ein paar Wochen oder Monate Arbeit.

Von Herbst 2011 an bezogen sie für ein paar Monate Hartz IV - bis das Jobcenter Berlin-Neukölln die Leistungen einstellte: Hartz IV bekommt auf Dauer nur, wer länger als ein Jahr am Stück gearbeitet hat - sonst ist nach sechs Monaten Schluss. Die österreichische Richterin Maria Berger, als Berichterstatterin für das Verfahren zuständig, hakte da kritisch nach: Ob das denn wirklich sein könne, dass die Arbeitsuchenden nach jedem Kurzzeitjob wieder auf null gestellt würden.

Die große Freiheit, die Europa bietet

Der Fall rührt damit ans Herz der europäischen Integration. Die große Freiheit, die Europa bietet, ist für viele Menschen gleichbedeutend mit dem Recht, jenseits nationaler Grenzen Arbeit zu suchen. Und weil Freiheit ohne Geld nicht viel wert ist, mündet das Verfahren in die Frage: Dürfen ausländische Arbeitsuchende bei Leistungen, die mit dem Arbeitsmarkt zu tun haben, schlechter behandelt werden als Inländer? Oder ist dies eine nach EU-Recht verbotene Diskriminierung von Ausländern?

Die Verhandlung kreiste deshalb in großen Teilen um die Frage, was Hartz IV eigentlich ist. Bloße Existenzsicherung? Dann wäre es nach der europäischen Freizügigkeitsrichtlinie deutlich leichter, Ausländer davon auszunehmen. Oder sollte damit nicht doch der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert werden? Die Hilfe-Empfänger zu "aktivieren", das hatte die rot-grüne Regierung bei der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 ja durchaus im Sinn.

Die Bundesregierung stellte sich in Luxemburg nun auf den Standpunkt, es gehe allein um Existenzsicherung - und erhielt erwartungsgemäß Schützenhilfe von den Vertretern anderer EU-Staaten wie Dänemark, Irland, Schweden, Frankreich und Großbritannien. Doch EuGH-Richter Egils Levits, ein vorzüglicher Deutschlandkenner, schien davon nicht so recht überzeugt zu sein. Wenn es bei Hartz IV nicht um die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt gehe, dann bedeute das doch für die Betroffenen: "Man gibt sie praktisch auf."

Die Lösung, die Eva Steffen, Anwältin der Klägerin, im Sinn hat, lautet: Kein apodiktischer Ausschluss der Leistungen, sondern Prüfung im Einzelfall, ob der Betroffene Zugang zum Arbeitsmarkt hat. Ihre Mandantin hat da einiges vorzuweisen. Längst arbeitet sie wieder, ebenso ihre Tochter. In Luxemburg streiten sie letztlich um einen Monat Hartz IV. In diesem Sinne plädierte auch die EU-Kommission, deren Wort Gewicht hat. Ein genereller Ausschluss Arbeitsuchender sei unverhältnismäßig, sagte Manuel Kellerbauer vom juristischen Dienst. Und sprach das große Wort aus, das über der sozialrechtlichen Kleinteiligkeit des Prozesses schwebt. Europäische Freizügigkeit bedeute auch, "eine gewisse finanzielle Solidarität mit den Angehörigen anderer Staaten zu zeigen".

Denn letztlich gilt es, Leitbegriffe wie Freizügigkeit mit Leben zu füllen. Dass Menschen sich in der EU frei bewegen dürfen, dass sie Staats- und EU-Bürger zugleich sind: Dies sind Konzepte mit praktischen Folgen. In den unterschiedlichsten Konstellationen hat der EuGH Klägern - Studenten, Rentnern, Arbeitslosen - Sozialleistungen zugestanden.

Weiteres Verfahren in Luxemburg anhängig

Sollte es auch hier so kommen, stellt sich natürlich die Frage: Wie teuer wird diese Solidarität in Europa? Auch deshalb, weil in Luxemburg noch ein weiteres Verfahren anhängig ist, der zweite Akt, wenn man so will. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat dem EuGH den Fall Garcia-Nieto vorgelegt, bei dem es um Ansprüche von Arbeitsuchenden geht, die noch keinerlei Jobs in Deutschland hatten. Also um Hartz IV vom ersten Tag an.

In der Bundesanstalt für Arbeit herrschte vor dem Alimanovic-Verfahren jedenfalls "keine Alarmstimmung", wie ein Sprecher sagt. Denn sollten Ansprüche von einer "tatsächlichen Verbindung mit dem Arbeitsmarkt" abhängig gemacht werden, wie es in einem früheren EuGH-Urteil heißt, müssten die Mitarbeiter in den Jobcentern dies im Einzelfall prüfen. Ohne Nachweise läuft nichts. Bewerbungen, Vorstellungsgespräche, Weiterbildungen - da müsste alles auf den Tisch. "Sozialtouristen", die allein auf die monatlichen 391 Euro aus Hartz IV aus wären, hätten zumindest kein allzu leichtes Spiel. Falls der EuGH den Arbeitsuchenden doch nicht recht gibt, springt womöglich das Bundesverfassungsgericht ein. 2012 hat es Asylbewerbern ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährt. Gilt das nicht auch für EU-Zuwanderer? "Migrationspolitische Erwägungen" könnten eine Absenkung von Leistungsstandards unter das Existenzminimum jedenfalls nicht rechtfertigen, befanden die Richter damals.

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