Snapchat:Er will nur deine Zeit

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Nicht an allen Stellen sind Selfies zu empfehlen. (Foto: imago/Westend61)

Für den Börsengang braucht der Kurznachrichtendienst Snapchat nicht nur eine Erfolgsgeschichte, sondern eine Vision für die Zukunft.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Wer durch eine amerikanische Großstadt fährt, der sieht überall diese überdimensionalen Reklametafeln für Bier, Fernsehserien und Anwälte. In den vergangenen Wochen ist ein neues Schild hinzugekommen: ein weißer Geist vor gelbem Hintergrund. Kein Slogan, kein Firmenname, keine Telefonnummer. Wer älter als 30 Jahre ist, der könnte nun die komplette Fahrt lang darüber rätseln, wer da so offensiv um Aufmerksamkeit buhlt - oder einfach jüngere Leute fragen. Die wissen natürlich, was das ist: das Logo des Kurznachrichtendienstes Snapchat. Darüber verschickte Fotos und Texte verschwinden nach kurzer Zeit wieder.

1,17 Milliarden Dollar hat das Unternehmen in mittlerweile acht Finanzierungsrunden eingesammelt. Es soll bald noch eine folgen, danach soll die Bewertung von Snapchat bei 19 Milliarden Dollar liegen. Bislang hat Gründer und Chef Evan Spiegel Übernahmeangebote, unter anderem von Facebook und Alphabet, abgelehnt und auf einen Börsengang verzichtet. Warum auch nicht? So muss er keine Zahlen veröffentlichen, zumal das Unternehmen höchst defizitär sein soll, und keine nervigen Vierteljahrestelefonate mit Analysten führen. Und das Geld der Investoren bekommt er dennoch hinterhergeworfen.

Vielleicht verzichtet Spiegel aber auch deshalb noch darauf, weil er bemerkt hat, wie andere Technologieunternehmen wie Twitter und Yelp an der Wall Street von den Bären überrannt worden sind, deren Aktienwert also sinkt. Oder dass der Bezahldienst Square, vor dem Börsengang im November 2015 mit mehr als sechs Milliarden Dollar bewertet, nicht einmal mehr die Hälfte wert ist. Oder wie Alibaba, Fitbit und Gopro mittlerweile unter dem jeweiligen Ausgabepreis gehandelt werden.

Ist die Zeit der "Unicorns" womöglich vorbei? So werden jene Unternehmen genannt, die Silicon-Valley-Investoren in Finanzierungsrunden mit Geld überschütten, weil sie als gar so selten gelten. Es gibt gerade eine Party wie 1999, mit dem Unterschied, dass nicht Hunderttausende ahnungsloser Kleinanleger ihr Geld an zahlreiche börsennotierte Unternehmen verteilen, sondern finanzkräftige Investoren an einige wenige Firmen: die Einhörner. Zahlreichen Firmen wurde dann im Zuge des Börsengangs das prächtige Horn auf der Stirn abgeschnitten, sie kommen nun eher daher wie gewöhnliche Pferde. Es gibt bereits eine Wortschöpfung für diese Unternehmen: Unicorpses, einmalige Leichen.

"Die Leute investieren riskanter. Ich glaube, dass es eine Korrektur geben wird."

Es heißt, dass in diesem Jahr ein paar solcher vermeintlicher Einhörner die Bewertung durch den Markt wagen wollen: der Wohnungsvermittler Airbnb (derzeit mit 25,5 Milliarden Dollar bewertet), der Fahrdienst Uber (62,5 Milliarden), das soziale Network Pinterest (elf Milliarden). Und natürlich Snapchat, über das Gründer Spiegel bereits im Sommer vergangenen Jahres gesagt hatte: "Wir müssen an die Börse." Im Herbst musste Snapchat wie einige andere Unternehmen (Dropbox, Blue Bottle) eine Bewertungskorrektur nach unten hinnehmen, Investor Fidelity bewertete seine Snapchat-Anteile um 25 Prozent geringer. Auch das hatte Spiegel vorhergesehen: "Die Leute investieren riskanter. Ich glaube, dass es eine Korrektur geben wird - das müssen wir bei unserer Strategie berücksichtigen."

Spiegel hat erkannt, dass er für einen erfolgreichen Börsengang keine Erfolgsgeschichten zu erzählen braucht wie jene, dass täglich mehr als 100 Millionen aktive Nutzer gut sieben Milliarden Videos ansehen, dass die Snapchat-App einer Studie von Piper Jaffray zufolge bei US-Teenagern (19 Prozent) mittlerweile beliebter ist als die von Facebook (15 Prozent) oder dass laut Comscore mehr als 60 Prozent der US-Millennials, also Menschen zwischen 13 und 30 Jahren, den Nachrichtendienst regelmäßig nutzen. Das alles sind die Gründe, warum Snapchat bereits jetzt derart hoch bewertet wird.

Damit die Party weitergeht und sein Unternehmen das Horn behalten darf, braucht Spiegel eine Strategie - und damit muss es Snapchat gelingen, die Massen zu erreichen, so wie es Facebook geschafft hat. Genau deshalb gibt das Unternehmen, dessen Marketingkosten bislang bei weniger als einer Million Dollar gelegen haben sollen, plötzlich sehr viel Geld für Werbung aus Großvaters Zeiten aus: Reklametafeln über Highways, ein überdimensionales Banner an einem Hotel in Las Vegas, Werbeschildchen vor Sportarenen. Um erwachsen zu werden, braucht Spiegel die Erwachsenen. Er muss jene hereinlassen, die zunächst nicht willkommen waren und weswegen die App auch so beliebt ist. Die Eltern kennen Snapchat nicht - und falls doch, dann können sie wegen der Verschwinde-Funktion nicht in den Nachrichten der Kinder schnüffeln. Es ist das virtuelle Draußen-Bleiben-Schild an der Kinderzimmertür.

Doch wirklich erfolgreich ist letztlich nur derjenige, der auch den Massenmarkt erreicht. Snapchat hat in den vergangenen Monaten bereits mit der Neuerung "Discover" versucht, die Zielgruppe zu erweitern und damit die Erlöse zu steigern. Die Nutzer bekommen dabei zum Beispiel Sport-Highlights des TV-Senders ESPN zu sehen. Externe Programmierer haben mittlerweile verraten, dass Snapchat bald auch Videoanrufe ermöglichen möchte und zudem an einer Funktion arbeitet, über die Zeichnungen verschickt werden können.

Snapchat möchte neue Rivalen wie Dubsmash, Periscope und Unmute auf Distanz halten - und die Nachrichtendienste von Facebook und dessen Tochter Whatsapp angreifen. Die Strategie dahinter: Snapchat will zu jener App werden, die von den Nutzern am häufigsten genutzt wird. Noch mehr, sie muss zu einer der Top-fünf-Apps für Erwachsene werden. Die Comscore-Studie zeigt auch, dass Erwachsene in den Vereinigten Staaten etwa 50 Prozent der Zeit, die sie auf ihr Smartphone blicken, mit nur einer von ihnen bevorzugten App verbringen. Bei den fünf Lieblings-Apps sind es gar 80 Prozent der Zeit. Nur wer dazugehört, darf sich weiter Einhorn nennen - allen anderen droht das Schicksal als Unicorpse.

Der 25 Jahre alte Evan Spiegel hat sich zu den veröffentlichten Dokumenten bislang nicht geäußert. Er muss keine Zahlen veröffentlichen und sich eben auch nicht mit kritischen Fragen von Investoren zu Wachstum und neuen Ideen beschäftigen. Noch kann er es sich leisten, mit möglichen Neunutzern und Investoren auf Reklametafeln zu kommunizieren, auf denen ein weißer Geist vor gelbem Hintergrund zu sehen ist. Noch.

© SZ vom 02.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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