Smart City-Serie:Fern-Diagnosen

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Seit 90 Jahren versorgen die Fliegenden Ärzte Patienten im australischen Hinterland. Inzwischen sind einige der Mediziner zum Bodenpersonal gewechselt: Sie behandeln Kranke und Verletzte per Internet.

Von Urs Wälterlin, Melbourne

Doktor Natalie Nanayakkara trägt keinen weißen Kittel. Nicht einmal ein Stethoskop um den Hals lässt erahnen, dass die junge Frau eine der führenden Endokrinologinnen Australiens ist. Als Fachärztin am renommierten Baker Heart and Diabetes Institut in Melbourne arbeitet sie für die Fliegenden Ärzte - den Royal Flying Doctor Service (RFDS). Ihre Praxis ist aber nicht die enge Kabine eines Pilatus-Porter-Ambulanzflugzeuges. Dr. Natalie, 35, arbeitet in einem ganz gewöhnlichen Büro, mitten in Melbourne. Falls überhaupt. "Ich kann meine Konsultationen eigentlich von überall aus führen", sagt die Ärztin, "solange ich meinen Laptop habe und eine Internetverbindung." Von zu Hause. Von unterwegs. Oder vom Strand.

Früher flogen Ärzte per Nomad N22B-Maschine zu Kranken ins australische Outback. Heute reicht für den Patientenkontakt auch ein Laptop. (Foto: imago stock)

Dr. Natalie ist eine "Fliegende Ärztin" der neuen Generation: Sie bleibt am Boden. Moderne Technologie erlaubt es der Spezialistin, Patienten aus der Ferne zu beraten. "Die Distanz spielt keine Rolle", sagt sie. "Ich habe Patienten, die ein bis zwei Tage reisen müssten, wenn ich sie in Fleisch und Blut sehen wollte." Da ist der Druck auf den Startknopf des Rechners um einiges einfacher. Sekunden später ist die Ärztin online. "Hallo Dr. Natalie", sagt die Patientin auf dem Bildschirm. Die Konsultation kann beginnen.

An ihrem Wohnort, fünf Stunden von Melbourne entfernt, hätte die Patientin keine Fachärztin

Seit 2013 bietet der RFDS im Bundesstaat Victoria sogenannte Telehealth-Leistungen für Patienten mit Diabetes und anderen Drüsenkrankheiten an. Zuckerkrankheit ist ein enormes Problem im ländlichen Australien. 6,1 Prozent der Erwachsenen leiden darunter, in den Städten sind es bis zu 5,5 Prozent. Diabetes und Folgeschäden sind auf dem Land für mehr als doppelt so viele Todesfälle verantwortlich als in der Stadt. Die Ursachen: schlechte Ernährung, wenig Bewegung, andere Lebensumstände. Das Telehealth-Programm, zu deutsch: Telemedizin, ist ein Erfolg. Seit der Einführung 2013 hielten die Ärzte über 1000 Konsultationen ab. Im letzten Jahr gab es 426 virtuelle Sprechstunden. Im Februar expandierte der Dienst in Kardiologie und Psychiatrie.

Verkehr, Sicherheit, Umwelt - wie verändert die Digitalisierung das Leben in den Städten? SZ-Serie · Folge 17. (Foto: SZ)

"Es ist enorm, wie die Technologie Zeit und Stress spart", sagt die Spezialistin. Als Tochter von Einwanderern aus Sri Lanka in einer Regionalstadt aufgewachsen, weiß sie aus eigener Erfahrung, wie schwierig es sein kann, auf dem Land spezialisierte ärztliche Beratung zu erhalten. An diesem Tag spricht sie mit einer Patientin, die etwa fünf Stunden Fahrzeit von Melbourne entfernt lebt. Es ist einer von 25 Orten, in denen der Dienst angeboten wird. "Ihr Fall zeigt besonders gut, wie positiv Fernberatung für das Leben der Betroffenen sein kann", sagt Dr. Natalie. Die junge Mutter von drei Kindern habe ein weiteres Baby erwartet, als ihr Hausarzt Diabetes diagnostizierte. "Während der Schwangerschaft wirkt sich die Krankheit nicht nur auf die Gesundheit der Mutter negativ aus, sondern auch des Kindes. Säuglinge von Diabetikerinnen können im Mutterleib zu groß werden, was Gefahren für Mutter und Kind mit sich bringt." An ihrem Wohnort, wo es nur grundlegende medizinische Dienste gibt, hätte die Patientin keine Chance gehabt, die notwendige Fachbehandlung zu erhalten. Ihre einzige Option wäre gewesen, für die Dauer der Schwangerschaft nach Melbourne zu ziehen. "Das hätte einschneidende Folgen gehabt für ihre Familie." Stattdessen konsultiert Dr. Natalie sie alle paar Tage über das Internet. Die Patientin sitzt dann im Gesundheitszentrum ihrer Gemeinde, unter Aufsicht einer Krankenschwester. "Die Konsultation war genauso, als wenn wir im selben Raum gesessen hätten", erzählt die Ärztin, "außer dass ich die Patientin nicht berühren konnte". Der fehlende Körperkontakt sei aber kein Problem. "Wenn ich wegen der Insulininjektionen ihre Hautbeschaffenheit sehen musste, konnte ich das über den Computer problemlos. Das Bild ist gestochen scharf." Dr. Natalie sei nach der Einführung des Telehealth-Dienstes nur kurz skeptisch gewesen, sagt sie. Befürchtungen, Fernberatung könnte zu unpersönlich sein, hätten sich rasch zerschlagen.

Fliegende Ärztin am Boden: Natalie Nanayakkara. (Foto: Urs Wälterlin)

Die Telehealth-Beratung ist kostenlos für Patienten. Sie wird - wie andere Dienste der medizinischen Grundversorgung - von der staatlichen Krankenkasse Medicare gedeckt. Die Plattform wurde spezifisch für die Fliegenden Ärzte entwickelt. Die Oberfläche ist einfach gestaltet, leicht verständlich auch für Laien. Das Programm ähnelt dem von Skype. Nur sei es sicherer, sagt eine RFDS-Sprecherin. Es werden ja schließlich auch Patientendaten ausgetauscht. Dr. Natalie hat per Mausklick Zugriff auf alle Untersuchungsberichte und Röntgenbilder ihrer Patienten. Dass ausgerechnet die Fliegenden Ärzte Pioniere der Telemedizin in Australien sind, muss nicht erstaunen. Seit der Dienst 1928 vom Presbyterianer-Pfarrer John Flynn ins Leben gerufen wurde, passt sich der über Spenden finanzierte Dienst den neuesten technischen und technologischen Entwicklungen an. Die Beratung von Patienten, die auf isolierten Rinderfarmen vom Pferd gefallen sind, die Sprechstunde mit der Bäuerin, die sich den Arm verbrüht hat: Sie geschahen einst per Funk, dann per Telefon und heute immer häufiger über das Internet. Damals wie heute ist das Ziel, den Menschen in den isolierten Regionen des Fünften Kontinents eine möglichst gleich gute medizinische Versorgung zukommen zu lassen. So wie sie die Bewohner in den Städten genießen, also dort, wo 98 Prozent der australischen Bevölkerung leben. Inzwischen hat der RFDS jährlich landesweit Kontakt mit 290 000 Patienten, gut 800 pro Tag. Eine Flotte von Flugzeugen führt 37 000 Evakuierungen und Gesundheitssprechstunden mit Ärzten durch, in einigen der isoliertesten Gegenden des Roten Kontinents.

Wer auf dem Land wohnt, braucht eine teure und zeitlich begrenzte Satellitenverbindung

Dr. Natalie ist "immer wieder fasziniert, wie einfach das Programm funktioniert", sagt sie, und wie gut die Qualität der Verbindung sei. Das ist in Australien keine Selbstverständlichkeit. Das Land steht im internationalen Vergleich an fünfzigster Stelle, was die Internet-Geschwindigkeit angeht. Statt der von der Regierung versprochenen "Digitalen Revolution" sehen sich australische Verbraucher mit langsameren Internetgeschwindigkeiten konfrontiert als weniger entwickelte Länder. Mangelhafte Planung, Fehlentscheide, politische Ideologie und eskalierende Kosten beim Ausrollen des seit Jahren geplanten staatlichen Breitband-Netzwerkes NBN haben dazu geführt, dass die Qualität der Internet-Verbindung außerhalb der Großstädte oftmals minderwertig ist - falls es überhaupt eine gibt. Selbst in nächster Umgebung auch größerer Landstädte sind Bewohner auf eine teure und in vielen Fällen zeitlich begrenzte Satellitenverbindung angewiesen.

In Melbourne hat die Verbindung zwischen Arzt und Patient heute gut funktioniert. Dr. Natalie konnte eine Behandlung erfolgreich abschließen, die ihr ganz besonders am Herzen lag: die junge Mutter mit dem Diabetes. Sie habe gestern ihr viertes Kind geboren, sagt die Ärztin. "Das Baby hat ein normales Gewicht. Mutter und Kind geht es bestens." Dr. Natalie klappt ihren Laptop zu. Feierabend, im Wortsinn.

© SZ vom 17.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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