Silicon Valley:Rückkehr der Dinosaurier

Silicon Valley: Illustration: Stefan Dimitrov

Illustration: Stefan Dimitrov

Die Firmen des Silicon Valley haben schon einige Märkte durcheinandergewirbelt. Nun könnte ihnen dasselbe passieren - das ist durchaus eine Chance auch für deutsche Unternehmen.

Von Jürgen Schmieder

Am Flughafen in San José sind sie ganz schön analog drauf. Der Automat des Mietwagenverleihs funktioniert nicht, der Besucher stellt sich geduldig ans Ende der Kundenschlange, er wartet auf einen menschlichen Mitarbeiter. Dann bekommt er ein benzinbetriebenes Gefährt, das er selbst steuern muss. Das Wlan im Terminal ist wackelig, der Kaffee kann nicht vorab per Smartphone-App bestellt und bezahlt werden, das Ticket für den Rückflug gibt es gedruckt auf Papier. Das ist alles so wie 2008, in Silicon-Valley-Jahren also in der Steinzeit verortet. Der schnuckelige Flughafen wirkt wie ein Relikt aus längst vergangener Zeit.

Dabei ist das hier doch das Tor zur Zukunft. Wer schnell zu Apple gelangen möchte, zu Facebook, zu Tesla, zu Google, zu Netflix und zu all den anderen hippen Valley-Unternehmen, der landet nicht in San Francisco, sondern in San José. Die legendäre Garage von Dave Packard und Bill Hewlett in Palo Alto, die als Geburtsort des Silicon Valley bezeichnet wird, ist nur 20 Autominuten entfernt, die von Steve Jobs in Los Altos gar nur 15 Minuten.

Sollten einen hier also nicht fliegende Autos ohne Fahrer direkt vom Flugzeug abholen? Sollte das Gepäck nicht per Drohne in die Airbnb-Wohnung geliefert werden? Sollte der Körperscanner nicht am Terminaleingang die Laktoseintoleranz des Besuchers erkennen und ohne Nachfrage Kaffee mit Sojamilch bereitstellen? Sollte das nicht alles, nun ja, viel digitaler sein?

Es kommt einem, während man im Terminal auf das Auto wartet, der Gedanke: Vielleicht gibt es all diese Dinge deshalb noch nicht, weil sie im Silicon Valley in den vergangenen zehn Jahren alles alleine hinbekommen haben. Weil die Firmen hier mit Software viele Probleme gelöst und unglaublich viel Geld verdient haben. Weil sie für viele Visionen der Zukunft aber Dinge brauchen, die sie nicht alleine produzieren können. Vielleicht brauchen sie dafür Partner. Vielleicht müssen sie umdenken.

Fliegende Autos und Kofferdrohnen klingen futuristisch, doch genau dafür steht dieses Tal an der Westküste der Vereinigten Staaten: Propheten wie Elon Musk, Mark Zuckerberg oder Larry Page verkünden regelmäßig ein besseres Leben, eine bessere Welt oder den baldigen Aufbruch zu einem besseren Planeten. Die Zukunft, sie muss futuristisch klingen, sie darf sich keinesfalls nach Höhlenmenschen oder Dinosauriern anhören oder gar nach 2008.

Das Modewort im Silicon Valley lautet seit einigen Jahren Disruption: Das Aufrütteln einer Branche durch ein billigeres Produkt oder eine innovative Technologie. Das klingt so fantastisch nach Fortschritt und Erneuerung, nach der Einführung besserer Produkte zum Wohle der Menschen. Es gab ja in den vergangenen Jahren zahlreiche Erfolgsgeschichten zu erzählen: Wie der Fahrdienst Uber die Taxibranche erschüttert hat, der Unterkunft-Marktplatz Airbnb die Hotelbranche, wie Netflix erst Videotheken obsolet gemacht und danach die komplette Fernsehindustrie revolutioniert hat. Disruption, das klang lange Zeit nach einer schöneren Welt. Wer braucht heutzutage schon Dinosaurier?

Wer vom Flughafen in San José nach Fremont, Mountain View oder Cupertino fährt und sich mit den Menschen unterhält, der merkt schnell, dass beim Begriff Disruption - der übrigens in jedem dritten Satz fällt und damit so lasch daherkommt wie ein drei Millionen Mal gebissener Kaugummi - auch ganz viel Arroganz und ein bisschen Aggression mitschwingt. Es geht dann nicht so sehr um eine bessere Welt und ein besseres Leben, sondern oft nur darum, dass Branchen gesprengt werden und Unternehmen aussterben müssen: traditionelle Autofirmen mit ideenlosen Benzinkopf-Chefs, Banken mit Wuchergebühren und fragwürdigen Investment-Tipps, Universitäten mit Anwesenheitspflicht und verstaubtem Lehrplan.

Im Juni veranstaltete Hewlett Packard Enterprise (HPE) einen Kongress in Las Vegas; auf der Mittelseite der Kongresszeitschrift war ein Himmel voller Wolken zu sehen: links hell und freundlich, rechts düster und bedrohlich. Die in fetten Buchstaben vermerkte Botschaft lautet: "Adapt or Die!" Pass dich an oder stirb. HPE-Chefin Meg Whitman führte diesen Gedanken in ihrer Rede fort und prognostizierte: "Jede Firma auf der Welt muss künftig eine Technologie-Firma sein."

Wer jedoch von Fremont nach Palo Alto fährt und dann rüber nach Cupertino, der fragt sich: Könnte es sein, dass sich auch das Silicon Valley anpassen muss?

Die Evangelisten aus dem Valley haben jahrelang gepredigt (und mit erfolgreichen Innovationen auch bewiesen), dass mit vielen Zeilen Computercode fast alles möglich ist - und dass es bei den Visionen der Technologie-Utopisten kaum noch Grenzen gibt: Sie wollen Krisen lösen, Krankheiten lindern, Kriege verhindern. Marc Andreessen, der mit seiner Firma Andreessen Horowitz in Start-ups wie Facebook, Groupon, Skype, Twitter und Foursquare investiert hat, durfte deshalb schon vor fünf Jahren in einem Essay behaupten, dass Software die Welt fressen würde.

Die digitale Revolution, die seit Jahren spürbar ist und dennoch gerade erst begonnen hat, hat nicht nur mit der weltfressenden Software zu tun, sondern auch damit, dass die Menschen damit in Berührung kommen - im wahrsten Sinne des Wortes. Ein Computer war vor 50 Jahren ein Ungetüm im Firmenkeller und vor 20 Jahren ein klobiges Ding auf dem Schreibtisch. Technische Geräte rücken immer näher an den Menschen heran, vom Laptop in der Tasche über das Smartphone in der Hand bis hin zu Gadgets wie den Fitnessarmbändern, die als sogenannte Wearables immer dabei sind. Es gibt kaum noch ein Körperteil, an dem nicht ein tragbares Gerät angebracht werden kann.

Der Google-Konzern Alphabet arbeitet mit Fiat zusammen, der Fahrdienst Uber mit Ford

Es geht noch weiter. Viel weiter. Kaum ein Gerät kann heute nicht schon digitalisiert werden. Gerade entsteht das Internet der Dinge, das alles miteinander verbinden soll: schlaue Wohnungen, schlaue Autos und schlaue Krankenhäuser. "Dies ist die spannendste Zeit in der Technologiebranche seit der Erfindung des ersten Computers", sagt Antonio Neri, bei HPE verantwortlich für den Internet-of-Things-Bereich: "Die Menschen sind jetzt schon daran gewöhnt, dass sie immerzu mit der Welt verbunden sind. Wer nicht dabei ist, der verpasst was." Es ist klar, dass Neri damit nicht nur einzelne Menschen meint, sondern auch Unternehmen.

"Adapt or die", pass dich an oder stirb. Das aber gilt auch für Technologiefirmen.

Was da gerade passiert, das ist beim Silicon-Valley-Platzhirschen Alphabet zu sehen, der unter dem Namen seiner Suchmaschine Google bekannt und durch ihre Vermarktung stinkreich geworden ist. Die Firma stellt nun auch Produkte für die analoge Welt her, das Telefon Pixel etwa, die Brille Glass oder den Lautsprecher Home. Das allein ist freilich keine Revolution und auch keine Disruption. Die Ankündigung, dass die Autosparte aus der Forschungsabteilung des Mutterkonzerns ausgegliedert werden soll, ist schon eher eine.

Alphabet will also Autos bauen, sie aber nicht unbedingt verkaufen, sondern nur vermieten. "Es wird auch in Zukunft Autos geben, die an Menschen verkauft werden. Es wird aber auch Autos geben, die von Menschen geteilt genutzt werden", sagt Autochef John Krafcik: "Wir haben unsere eigene Vorstellung, wie das aussehen wird." Eine Art Taxi-Flotte selbstfahrender Autos womöglich, der Kunde bezahlt für die gefahrenen Kilometer. Das wirklich Spannende an dieser Autosparte indes ist: Alphabet ist nicht so vermessen zu glauben, es werde dieses gewaltige Projekt alleine mit ein paar Zeilen Computercode lösen können.

Alphabet kooperiert mit Fiat, die Fahrdienste Uber und Lyft arbeiten bei ihren Plänen, selbstfahrende Autos auf die Straßen zu bringen, mit Ford zusammen. Deutsche Hersteller halten sich derzeit noch zurück. Sie fürchten, zu Lieferanten für die Silicon-Valley-Giganten degradiert zu werden. Die Sorge ist berechtigt; andererseits bietet die Entwicklung eine immense Chance auch für deutsche Unternehmen. Schließlich braucht das Internet der Dinge eben, nun ja, Dinge. Es geht dabei nicht nur um Autos, sondern - zumindest wenn Meg Whitman recht behält mit ihrer Prognose, dass jede Firma eine Technikfirma werden muss - um beinahe jedes Produkt. Es soll ja alles mit allem vernetzt werden.

Die alten Unternehmen haben die Chance, doch noch dabei zu sein bei der Zukunft

Die Technologie-Utopisten aus dem Silicon Valley bemerken, dass sie die Zukunft nicht nur mit Computercode gestalten können, sondern auf das Wissen aus der alten Welt angewiesen sind: Wer ein selbstfahrendes Auto auf den Markt bringen möchte, der sollte mit einer Firma kooperieren, die Erfahrung darin hat, Autos zu bauen. Wer eine Datenbrille verkaufen will, die nicht so dämlich aussieht wie Google Glass, der braucht einen Partner, der geeignete Gläser dafür herstellen kann. Wer das Krankenhaus der Zukunft gestalten möchte, der braucht jemanden, der mit der Herstellung medizinischer Geräte vertraut ist. Auch die Silicon-Valley-Denker müssen sich anpassen, wenn sie nicht selbst irgendwann zu Dinosauriern werden wollen. Das kann schnell gehen an der Westküste der USA - oder erinnert sich noch jemand an die einst so gehypten Unternehmen Skully (ein Hersteller schlauer Motorradhelme), Theranos (Laborunternehmen zur Blutuntersuchung) oder Zenefits (Human-Resources-Software)?

Die Silicon-Valley-Visionäre basteln weiterhin an der Zukunft, oft aggressiv und noch öfter arrogant, was die Zusammenarbeit häufig nicht einfach macht. Sie bemerken aber auch, dass sie das mit der Zukunft nicht mehr allein hinbekommen.

Das ist die große Chance für Unternehmen, die schon als vom Aussterben bedrohte Dinosaurier galten. Sie verstehen vielleicht nicht viel vom Internet, aber umso mehr davon, wie man Dinge effizient herstellt. Nach Jahren der digitalen Lethargie haben sie plötzlich die Gelegenheit, doch noch dabei zu sein bei der Zukunft.

Es mag sich für die Verantwortlichen dieser Unternehmen lohnen, nach San José zu fliegen - und zwar nicht mehr nur als Touristen, die mit offenem Mund die Innovationen der Weltverbesserer bestaunen, sondern als mögliche Partner auf Augenhöhe. Wer übrigens an diesem Flughafen auf seinen Koffer wartet, der sieht auf der Anzeigetafel, dass seit Juli ein Direktflug nach Frankfurt angeboten wird. Das mag Zufall sein. Wahrscheinlich ist es keiner.

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