Siemens: Korruptionsaffäre:"Das ist wie bei der Mafia"

330 dubiose Projekte, 4300 illegale Zahlungen und Kosten von insgesamt 2,5 Milliarden Euro: Die Ausmaße der Korruptionsaffäre bei Siemens sind immens. Sie hat aber auch die ganze Wirtschaft zum Umdenken gebracht.

Hans Leyendecker

Zerbeulte Egos, zerstörte Karrieren, eine Milliarden-Strafe - der Siemens-Skandal erwies sich als gigantischer Regelverstoß. Die Aufarbeitung der Korruptionsaffäre durch Münchner Ermittler und durch den Konzern selbst hat weltweit Maßstäbe gesetzt. Möglicherweise werden eines Tages Korruptionsforscher von der Zeit vor und der Zeit nach dem Siemens-Fall sprechen.

People walk in Siemens factory in Munich

Die Korruptionsaffäre bei Siemens läutete in der gesamten Wirtschaft ein Umdenken ein.

(Foto: REUTERS)

Davor, das war die Zeit von Heuchelei und Hybris: Dass der kurzfristige, mit illegalen Mitteln erzielte Geschäftserfolg von Übel sei, diese Losung kannten alle Siemens-Leute. Die Realität war in vielen Bereichen des Konzerns aber dennoch eine ganz andere: Es wurde kräftig bestochen. Fahnder stießen auf rund 4300 illegale Zahlungen. Sie protokollierten mehr als 330 dubiose Projekte - von Kraftwerken in Israel bis hin zu fälschungssicheren Ausweisen in Argentinien. Mit umgerechnet rund 1,3 Milliarden Euro war Landschaftspflege der besonderen Art betrieben worden.

Danach, da dominierten zunächst Wut und Verblüffung: Dass Mitglieder des Vorstands ein "Paralleluniversum gedeckt, geduldet oder gar initiiert hatten", wie Aufsichtsratschef Gerhard Cromme feststellte. Dass die staatlichen Ermittler hartnäckig nachforschten, nachdem sie am 15. November 2006 ihre Großrazzia gestartet hatten. Von oben zog niemand die Handbremse, was auch bemerkenswert ist. Am Ende kostete der Skandal den Konzern etwa zweieinhalb Milliarden Euro an Strafen, Nachsteuern sowie an zusätzlichen Honoraren für Anwälte und Wirtschaftsprüfer.

Das viele Geld war aber auch eine Investition in ein sauberes Unternehmen: Heute ist Siemens bei der Korruptionsbekämpfung das deutsche Vorzeige-Unternehmen. Der Konzern hat sich zu sauberen Geschäften verpflichtet. Bei Verstößen gilt weltweit das Gebot: null Toleranz. "Siemens wird niemanden mehr bestechen", behauptet Cromme.

Auch wegen der Aktivitäten der vielen Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften ist es heute weitaus riskanter, Schmiergeld zu zahlen - wie es früher üblich war. Und bei der Verfolgung von Korruption im Ausland ist Deutschland weltweit ganz vorn, wie im vorigen Jahr die Anti-Korruptions-Organisation Transparency International (TI) feststellte. In vielen der von ihr untersuchten Länder ignorierten Staatsanwaltschaften etwaige Schmiergeldzahlungen im Ausland.

Überall Compliance

Übertreiben die Deutschen? Bis 1999 war Korruption in Deutschland nur moralisch anstößig. Dann kamen neue Gesetze. Endlich. Der Siemens-Fall war vermutlich eine Zäsur, aber auch weitere aufgeflogene oder schon abgeurteilte Skandalfälle bei MAN, Daimler, Telekom, Bahn oder Ferrostaal lösten in der deutschen Wirtschaft eine neue Bewegung aus: Überall entstanden in Unternehmen große Compliance-Abteilungen, die für die Einhaltung von gesetzlichen Bestimmungen und internen Standards sorgen sollen. Meist werden sie mit einem neuartigen Ethik- und Wertemanagement kombiniert. Ausführlich dargestellte Compliance verbessert die Marktstellung von Unternehmen erheblich.

Aber: Sind alle mit aufwendigen Compliance-Abteilungen ausgestattete Unternehmen wirklich ganz sauber geworden? Häufige Besucher von Fachkongressen zum Kampf gegen Bestechung können bei dieser Frage schon mal ins Grübeln kommen. Zum einen verweisen bei solchen Anlässen die Praktiker gern zu späterer Stunde auf den Umstand, solche Systeme seien auch sinnvoll, um für den Fall der Fälle die Vorstände oder Geschäftsführer vor Haftung zu bewahren.

Eine scheinheilige Debatte?

Zum Zweiten gibt es immer noch Geschäftsleute, die bekunden, in etlichen Ländern laufe nun mal nichts ohne Bestechung. Ganz selten allerdings wird diese Art Diskurs über Geschäft und Moral öffentlich geführt wie im Sommer 2010 im Handelsblatt. Der Hannoveraner Rohrleitungsspezialist Eginhard Vietz, ein Mittelständler, verteidigte in der Zeitung die Zahlung von Schmiergeldern in Ländern wie Algerien, Ägypten, Nigeria oder Russland. Die deutsche Debatte werde "scheinheilig" geführt.

Er habe in China erlebt, dass ohne geschmierte Beziehungen nichts zu machen sei, enthüllte Vietz: "Da kommt dann eine Rechnung, auf der steht: ,Vermittlungsprovision'. Und dann ist da ein Konto in der Schweiz angegeben und dahin wird das Geld überwiesen." Ein paar Tage nach dieser Aussage bekam der Provokateur Besuch von der Staatsanwaltschaft. Sie leitete gegen ihn, nach Lektüre, ein Ermittlungsverfahren ein.

Peter Y. Solmssen, seit 2007 Antikorruptionsvorstand bei Siemens, widersprach sofort: "Wer Schmiergeld zahlt, schadet dem Geschäft." Solmssen hält die Aussagen des Mittelständlers "für rundweg falsch". Keine Firma müsse "sich dem Druck beugen", sagt der Siemens-Mann. Es komme bei solchen Forderungen nur darauf an, nicht nachzugeben. "Das ist wie bei der Mafia. Wer einmal Schutzgeld zahlt, ist dran. Wer nicht zahlt, wird auch nicht mehr angegangen. Standhaftigkeit zahlt sich aus."

In China informieren sich die Compliance-Abteilungen von Siemens, Philips und General Electric über Verdachtsfälle. Das sei kein Privileg der Großen, sagt der Siemens-Vorstand: "Auch Mittelständler können sich wehren." Eine Aufarbeitung der Schmiergeldfälle von Siemens habe gezeigt, so Solmssen, dass viele der unlauter akquirierten Aufträge häufig Verlustgeschäfte gewesen seien. Für den Konzern sei oft weniger geblieben als bei ehrlichen Geschäften.

Regelverstöße, das belegen Forschungen, können das Image einer Firma zerstören. Aber sie sind auch aus ökonomischen Gründen oft schädlich. In den USA erschien vor Jahren eine Studie, die Unternehmen verglich: solche, die nicht durch illegale Praktiken aufgefallen waren, mit jenen, die unsauber agiert hatten. Ergebnis: Die sauberen erwirtschafteten viel bessere Erträge - die anderen waren weniger innovativ und steckten in starken Abhängigkeiten fest.

"Wer die Moral vernachlässigt, der schadet am Ende der Profitabilität." Das hat 2003 ein Spitzenmanager geschrieben, dessen Konzern die Richtigkeit dieser Aussage später sehr schmerzhaft erfahren hat. Der Autor war der frühere Siemens-Chef Heinrich von Pierer.

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