Siemens:"Gesundheit wird zum Wirtschaftsfaktor"

Siemens-Vorstand Erich Reinhardt über Rückschläge auf dem US-Markt, neue Konkurrenten - und das große Geschäft in Asien.

M. Balser und T. Fromm

18 Geschosse hoch ragt das Siemens-Hochhaus in den Himmel über Erlangen. Wo die Zweckbauten des Weltkonzerns wegen Farbe und Form Namen tragen wie Himbeerpalast oder Bananenbau, hat Erich Reinhardt sein Büro, Siemens-Vorstand und Chef der Gesundheitssparte des Konzerns. Aus der fränkischen Stadt steuert Reinhardt ein Weltgeschäft, das für den Konzern mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Denn der 61-Jährige geht davon aus, dass die Medizintechnik zur Leitbranche der nächsten Jahre wird. "Das Gesundheitssystem ist schon heute einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren. Ich erwarte in diesem Sektor noch weitere Veränderungen", sagt Reinhardt im Interview mit der Süddeutschen Zeitung.

Siemens, ap

Erich Reinhardt leitet die Siemens-Gesundheitssparte

(Foto: Foto: oH)

Die führenden Konzerne Siemens, General Electric und Philips buhlen um einen Milliardenmarkt. Bis zum Jahr 2030 soll sich in den Industrienationen die Zahl der über 65-Jährigen verdoppeln. Politikern macht das große Sorgen, die Unternehmen sehen dagegen ein Milliardengeschäft. Wegen der steigenden Lebenserwartung sitzen schon heute mehr ältere Menschen in den Wartezimmern der Arztpraxen denn je. Zudem schafft der medizinische Fortschritt seinen eigenen Markt: Immer mehr Krankheiten lassen sich therapieren, neue Diagnoseverfahren erlauben frühere Eingriffe, technische Verfahren kürzere Behandlungszeiten. "Mit dem Wachstum der Bevölkerung in den Schwellenländern und der gleichzeitigen Alterung der Gesellschaft insbesondere in den Industrienationen wird die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen stark steigen", sagt Reinhardt voraus. Nach einer Untersuchung der Unternehmensberatung Price Waterhouse Coopers (PWC) werden sich die Kosten im Gesundheitswesen bis zum Jahr 2020 allein in den 24 Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) auf zehn Billionen Dollar verdreifachen.

"Es gibt immer ein Risiko"

Reinhardt ist der Mann, der die Medizintechniksparte bei Siemens auf den großen Boom vorbereiten soll. Mit dem Konzernumbau bei Siemens zum 1. Januar ist aus der einstigen Medizintechniksparte einer von drei großen "Sektoren" geworden. Sektoren heißen bei Siemens die drei Hauptgeschäftsfelder Medizin, Energie und Industrie. Noch nie stand das Gesundheitsgeschäft bei Siemens damit so stark im Vordergrund wie heute. Dafür hat Reinhardt das Geschäftsmodell in den vergangenen Jahren komplett neu strukturiert: Der Konzern, der bislang Großgeräte wie Computertomographen, Magnetresonanztomographen oder Röntgenapparate herstellte, hat Milliarden von Euro in die Hand genommen, um seine Angebotspalette zu erweitern.

Erstmals ist Siemens damit auch im Bereich der sogenannten "In-Vitro-Diagnostik" vertreten - und bietet zum Beispiel Bluttests im Reagenzglas an, mit denen sich die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einzelner Erkrankungen schon im Vorfeld vorhersagen lässt. Für Reinhardt ist dies nicht nur innovativ, sondern auch kostensenkend: "Wir sind hier ganz klar die Trendsetter." Reinhardt hat sein Ziel erreicht: Siemens bietet die gesamte Produktpalette im Diagnosebereich - von In-Vitro-Diagnostik bis hin zur Bildgebung - komplett an. Nun muss der Konzern zeigen, dass sein Plan aufgeht und sich die von vielen Analysten als zu teuer kritisierten Kaufpreise für Diagnose-Firmen wie Dade Behring und Bayer Diagnostics rentieren.

"Gesundheit wird zum Wirtschaftsfaktor"

Reinhardt weiß: Er steht nun unter enormem Erfolgsdruck. Bislang verlangte der Siemens-Chef von seiner Sparte eine Gewinnmarge von elf bis 13 Prozent. Nun will er bis 2010 eine Rendite von bis zu 17 Prozent sehen. Für Reinhardt eine große Herausforderung: "Natürlich können wir Übernahmen intern nur rechtfertigen, wenn sie wirtschaftliche Erfolge bringen. Den Beweis müssen wir nun antreten. Und ich bin überzeugt, dass das klappt." In der Medizintechnik-Branche seien schließlich die "Preise höher, weil auch die Unternehmen profitabler sind".

Marktkenner bezweifeln allerdings, dass sich die Milliarden-Investitionen so schnell für Siemens auszahlen und der Konzern die Ausgaben für moderne und kostspielige Technologien auch wieder einspielt. Zu teuer seien moderne medizinische Leistungen, zu groß der Investitionsstau in deutschen Krankenhäusern. Diese öffentliche Diskussion nach dem Motto: Gesundheit wird zu teuer - wir müssen die Leistungen begrenzen, gehe in die falsche Richtung, warnt Reinhardt. Einerseits gebe es Möglichkeiten, die relativen Kosten bei höherer Qualität zu senken - zum Beispiel durch eine bessere Prävention. Zum anderen seien strukturelle Veränderungen nötig: So gäben die Deutschen jährlich 170 Milliarden Euro für ihre privaten Autos aus. Die Ausgaben gesetzlicher Krankenkassen lägen dagegen nur bei 140 Milliarden Euro. Es sei wichtig, Menschen zu motivieren, für ihre Gesundheit stärker privat zu sorgen. "Wer eine bessere Leistung erhält, ist auch bereit, dafür etwas mehr zu bezahlen."

Gesundheitswesen soll transparenter werden

Dafür müsse das Gesundheitswesen aber transparenter werden und dem Patienten mehr Entscheidungsmöglichkeiten überlassen, fordert Reinhardt. Patienten setzten sich zum gleichen Kostensatz höheren Strahlenbelastungen mit älteren Geräten aus, kritisiert er - "oft ohne es zu wissen". Mehr Wettbewerb zwischen Ärzten und eine bessere Information der Patienten sei entscheidend, um die Qualität im Gesundheitswesen zu verbessern. So helfe der stärkere Einsatz von Informationstechnik, treffsichere und schnellere Diagnosen zu erzielen und Doppeluntersuchungen zu vermeiden. Reinhardt fordert deswegen, Vorbildregionen zu schaffen. "Wir müssen zeigen können, wie es geht. Nur so schaffen wir Veränderungen." So starte Siemens derzeit mit der Universität Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern ein Musterprojekt.

Doch Reinhardt weiß auch: Die Branche kämpft mit Risiken. Die Schwäche des US-Marktes - weltweit wichtigste Region für alle Hersteller - wird zur Belastung. Das Gesetz zur Senkung des Budgetdefizits (Deficit Reduction Act) führt zu erheblichen Einsparungen im amerikanischen Gesundheitswesen. Kliniken müssen ihre Ausgaben reduzieren. "Der US-Markt ist in einigen Produktsegmenten rückläufig", räumt Reinhardt ein. Das belaste die gesamte Medizintechnik-Branche seit geraumer Zeit. Ohnehin hat es Siemens auf dem Heimatmarkt des Erzrivalen General Electric nicht leicht. Siemens Healthcare bleibe dennoch bei seinem Ziel, im laufenden Jahr Marktanteile in den USA zu gewinnen. Gegenüber Konkurrenten sei der Einstieg in die In-Vitro-Diagnostik ein Vorteil. Frühestens in der zweiten Jahreshälfte, so heißt es aus Konzernkreisen, werde sich die Lage auf dem US-Markt allerdings beruhigen.

Dafür blickt der Anbieter aus Franken immer mehr in Richtung Asien. Der rasante Wirtschaftsboom stelle die Anbieter vor bisher unbekannte Probleme. "Die Nachfrage nach ländlicher Gesundheitsversorgung abseits etablierter Zentren wächst", so Reinhardt. Dafür müssten die Konzerne spezielle Technologien entwickeln. So produziert Siemens seine Geräte immer mehr auch in Schwellenländern - für die dortigen Märkte, aber auch für den globalen Markt. "Wir werden immer alles tun, um alle Kostenvorteile auszunutzen", erklärt Reinhardt. "Und wenn ich jetzt nach vorne schaue, kann ich sagen: Wir werden noch stärker in Asien aufbauen." Noch geht er davon aus, dass jemand, "der seine komplette Produktion allein in Asien hat, im Weltmarkt nicht bestehen wird". Eine langfristige Standortgarantie für Medizintechnik-Arbeitsplätze etwa in Erlangen oder Forchheim aber will Reinhardt nicht abgeben. "Jeder Mitarbeiter muss wissen, dass es immer ein Risiko gibt. Was wir tun können, um die Arbeitsplätze zu sichern, ist erfolgreich wachsen", betont er.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: