Siemens:Auf der Höhe der Zeit

Die Siemens-Zentrale in München war lange abgeschottet. Nun öffnet sich der Konzern, was auch die Architektur des neuen Hauptquartiers deutlich machen soll. Mehr Google, weniger Industriebehörde.

Von Christoph Giesen

Es ist nicht weniger als eine Kulturrevolution. Wo immer man auf der Welt ein Werk oder ein Büro von Siemens betrat, galt eigentlich überall dieselbe schrullige Regel: Das Erdgeschoss wird bei Siemens als zweites Stockwerk geführt, da Industriebauten gewöhnlich zwei Kellergeschosse haben.

Wer diesen Spleen nicht kannte, fuhr beim ersten Mal mit ziemlicher Sicherheit mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage. Damit ist es nun vorbei. In der neuen Zentrale bricht Siemens mit der Tradition. Wer im Lift auf die "Null" drückt, kommt auch tatsächlich im Erdgeschoss an. Aber auch sonst ist das Hauptquartier für Siemens etwas ganz Neues.

Die alte Hauptverwaltung des Konzerns war eine Trutzburg mitten im Herzen Münchens, sie stand in gewisser Hinsicht auch für die Verfehlungen von Siemens im Schmiergeldskandal, der das Unternehmen in den Jahren 2006 und 2007 erschütterte: ein vor allem im Innern nicht mehr ganz so modernes Gebäude.

Für Außenstehende war das Palais am Wittelsbacher Platz, in dem der Vorstand und die Aufsichtsräte residierten, nicht als Zentrale eines Weltkonzerns zu erkennen. Vor der Tür ein Reiterstandbild und keine Gasturbine. Im Gebäude selbst waren die Hierarchen klar, Männer im Anzug, die am Wochenende gemeinsam zur Jagd fuhren. "Am Hofe", sagte man spöttisch bei Siemens, wenn mal wieder von der Zentrale und ihrem Eigenleben getuschelt wurde.

Der Neubau soll hingegen für ein offenes Unternehmen stehen. 16 000 Quadratmeter Glasfront. Es gibt ein Café und ein Restaurant, das jeder besuchen kann. 90 Prozent des Erdgeschosses sind für alle zugänglich. Auch die Adresse hat sich geändert: Werner-von-Siemens-Straße 1 heißt die neue Anschrift. Keine bayerischen Könige mehr, sondern ein offener Konzern.

Das gilt auch für die Büros. Großraum statt Einzelzellen, eine Dachterrasse, jede Menge Sitzecken mit Sofas. Der eigene Schreibtisch ist für die meisten der 1200 Mitarbeiter in der Zentrale weitgehend abgeschafft. Die Angestellten haben Laptops und Smartphones und suchen sich jeden Tag einen freien Platz. Familienfotos und Kaffeetassen müssen künftig in Schließfächern weggesperrt werden.

Der eigene Schreibtisch ist für viele Mitarbeiter weitestgehend abgeschafft

Vor allem für viele Langgediente dürfte das gewöhnungsbedürftig sein. Früher galt die einfache Formel, wer einmal im Konzern anfängt, der wird als Siemensianer pensioniert. Als Monopolist in vielen Sparten konnte man sich diese Verschlossenheit leisten. Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Der Konzern muss sich wandeln. Mehr Google und weniger Industriebehörde. Schließlich verändert sich das Geschäftsmodell von Siemens rasant. Um die Digitalisierung der Industrie zu meistern, braucht man neue Ideen und auch neue Mitarbeiter. 17 500 Software-Ingenieure arbeiten bereits für Siemens. Konzernchef Joe Kaeser möchte, dass es noch viel mehr werden. Dazu hat er dem Unternehmen eine neue Lockerheit verordnet. Künftig soll es bei Siemens eine Start-up-Kultur geben.

Mehr Ideen, weniger Zwänge. Immer wieder erzählt er die Anekdote, wie Siemens Ende der Achtzigerjahre drei Männer aus Kalifornien abblitzen ließ, die daran arbeiteten, das Telefonieren über das Internet zu ermöglichen. "Wie soll das denn funktionieren? Wenn das ginge, hätten ja wir es erfunden", teilte man schroff mit. Aus dem Start-up, für das zwei der Gäste aus Kalifornien damals arbeiteten, wurde später der Weltkonzern Cisco - und Siemens verpasste den Trend. Das soll nie wieder geschehen.

Die Idee, dem Konzern eine neue, offene Zentrale zu verordnen, hatte jedoch noch Kaesers Vorgänger Peter Löscher, der nach dem Korruptionsskandal als erster Vorstandschef von außen kam und Siemens gut tat. "Zu weiß, zu deutsch, zu männlich" sei das Unternehmen, analysierte er einmal. 2010 ließ Löscher einen Architekturwettbewerb ausschreiben, 2013 legte er noch den Grundstein, dann übernahm Kaeser, in dessen Konzept sich der Neubau nahtlos einfügt, denn auch bei der Konkurrenz hat man den Wandel der Zeit erkannt. Vor fünf Jahren warb der amerikanische Erzrivale General Electric (GE) den IT-Manager Bill Ruh ausgerechnet von Cisco ab und machte ihn zum Digitalchef. Als Ruh bei GE anfing, fand er ein Unternehmen vor, das genauso aussah und funktionierte, wie man sich einen Industriekonzern mit angeschlossener Finanzabteilung vorstellt. Wie bei Siemens: Strikte Hierarchien, viele Männer und Krawatten.

Schluss mit Fotos

Fotos in Job-Bewerbungen sind aus Sicht von Siemens-Personalchefin Janina Kugel überflüssig. Es gebe das Risiko, dass Firmenverantwortliche auf Basis solcher Bilder beeinflusst würden und dadurch nicht die richtigen Personalentscheidungen träfen, sagte Kugel am Donnerstag bei einer Veranstaltung des Netzwerks "Chefsache" in Gerlingen. Kugel verwies auf das Problem unbewusster Denkmuster (Englisch: Unconscious Bias), wenn also etwa Punkertypen als unseriös oder Ältere als technikfern eingeordnet würden. "Ganz eindeutig ist es wissenschaftlich bewiesen, dass ein Foto einen Rückschluss auf eine Qualifizierung beinhaltet, wenngleich das natürlich nicht unbedingt richtig ist", sagte Kugel. In manchen Staaten wie Kanada sind Fotos in Bewerbungen bereits verboten. dpa

Bei der Digitalsparte, die Ruh aufbaut, hat sich das geändert. Für die 27 500 Mitarbeiter in Ruhs Abteilung gibt es keinen Dresscode mehr, seine Mannschaft arbeitet auch nicht wie so viele andere GE-Einheiten in trostlosen Vorstädten. Ruh hat ein Stück alte Industrie mitten ins Silicon Valley verlegen lassen. Denn wie sonst überzeugt man Programmierer und IT-Spezialisten, für GE oder eben Siemens zu arbeiten, und nicht etwa für Facebook oder gar die eigene Firma?

Mit einer hauseigenen Stockwerk-Zählung funktioniert das jedenfalls nicht. Siemens wandelt sich, die neue Zentrale ist eindrucksvoller Beleg dafür.

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