Serie: Kapitalismus in der Krise:Das Ende der Weisheit der Vielen

Im Internet findet der Weltgeist sein erstes wahres Forum, so lautet die Utopie. Doch die Finanzkrise zeigt, dass Kollektive nicht immer vernünftig handeln.

Andrian Kreye

Die Weisheit der Vielen funktioniert ganz einfach. Jeden Montag und Freitag kann man das im deutschen Fernsehen zur besten Sendezeit verfolgen. Jedes Mal nämlich, wenn einer der Rätselkandidaten der Sendung "Wer wird Millionär" nicht mehr weiter weiß und seinen Publikumsjoker zieht, zeigt das eingeblendete Statistikdiagramm, dass sich die Vielen im Publikum fast immer einig sind und selten irren. Glaubt man dem Wirtschaftskolumnisten der Wochenzeitschrift New Yorker, James Surowiecki, der das Phänomen anhand der amerikanischen Lizenzausgabe der Quizshow untersucht hat, dann liegt die Trefferquote des Publikums bei 91 Prozent. Die Experten, die jeder Kandidat mit dem Telefonjoker befragen kann, liegen dagegen bei nur 65 Prozent richtiger Antworten.

Schafe, Foto: Schellnegger

Auch der Mensch kennt den Herdentrieb und stumpfen Kollektivismus.

(Foto: Foto: Schellnegger)

Was sich da so schlicht vor den Augen des Fernsehpublikums abspielt ist nicht nur ein massenpsychologisches Phänomen, sondern auch ein Credo, das Wirtschaft, Soziologie und Kultur erfasste. Es war ein Credo, das einerseits in den gesellschaftlichen Utopien des 20. Jahrhunderts wurzelte, andererseits ein zeitgemäßes Bild für die unsichtbare Hand darstellte, die der schottische Wirtschaftstheoretiker und Philosoph Adam Smith 1776 in seinem Buch "Der Wohlstand der Nationen" als Metapher für die Kräfte des Marktes erfand.

Die Weisheit der Vielen sollte die Demokratisierung der Menschheit und die Freiheit des Marktes im digitalen Zeitalter auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Damit würde jener Entwicklungssprung besiegelt, den die Futurologen Alvin und Heidi Toffler 1980 in ihrem Buch "Die dritte Welle" als so epochal beschrieben, wie den Übergang vom Zustand des Jagens und Sammelns zur Agrar-, und später dann zur Industriegesellschaft.

Mit seinem Buch über die Weisheit der Vielen verankerte Surowiecki den Begriff im Vokabular der Populärkultur. Er sammelte eine Unmenge Fakten und Beispiele aus der Biologie, der Verhaltensökonomie und der Popkultur. Die Metapher für die neuen und auch alten Märkte liegt auf der Hand. Wenn ein so unkontrollierbares Kollektiv wie ein Fernsehpublikum zu richtigen Lösungen eines Problems kommt, so müssen auch andere, ähnlich zügellose Kollektive zu richtigen Entscheidungen kommen. Der Markt zum Beispiel. Viel wichtiger, als Surowieckis Analogie zum freien Markt, war jedoch seine Bedeutung als Theoretiker für eine junge Generation, die mit dem Internet das wohl umfassendste Instrument für kollektiven Aktivismus zur Verfügung hatte. Im Internet fände der Weltgeist sein erstes wahres Forum, so der utopische Gedanke, der sich zu Beginn der neunziger Jahre formulierte.

Drastischstes Gegenbeispiel

Die Krise des Finanzsystems scheint Surowieckis These nun drastisch zu widerlegen. Ist der Zusammenbruch der Finanzmärkte nicht der Beweis für die Unfähigkeit der Kollektive, vernünftig zu handeln? Nun geht die Idee von der Weisheit der Vielen wie jede Utopie vom Idealfall aus. Und im Idealfall produziert die Weisheit der Vielen eine Synergie, in der sich die Informationen jedes Einzelnen nicht nur addieren, sondern sogar potenzieren. Positive Beispiele dafür gibt es vor allem in den USA genügend. Der enorme Bewusstseinswandel in Umweltfragen beispielsweise. Auch Barack Obama verdankt seinen Wahlsieg letztlich einer Weisheit der Vielen, die sich im Internet formierte.

Die Finanzkrise hat nun allerdings das wohl drastischste Gegenbeispiel für diese Weisheit der Vielen geliefert. Sie hat einmal mehr jene Theorie bestätigt, die Surowiecki im Titel seines Buches parodiert. Es war im Jahr 1841, als der schottische Dichter Charles Mackay die drei Bände seiner "Memoirs of extraordinary popular delusions and the madness of crowds" veröffentlichte. Weil Mackay in seinem Werk den Wahnsinn der Vielen illustrierte, indem er die Geschichte der Alchemie, der Hexenjagden und die Wirtschaftsblasen des 17. und 18. Jahrhunderts in einen Topf warf, gilt das Werk des Laienhistorikers immer noch als zitierfähig. "Menschen denken wie Herden", beginnt sein wohl bekanntestes Zitat. "Es wird sich zeigen, dass sie wie Herden verrückt werden, auch wenn sie sich davon nur als Einzelne erholen werden."

Mackays populärwissenschaftliche Betrachtung des menschlichen Herdentriebes entsprang antidemokratischen Ressentiments des 19. Jahrhunderts. Die kollektiven Tragödien des 20. Jahrhunderts schienen die Kassandrarufe ja zu bestätigen, egal ob es Gustave Le Bons Furcht vor der neuen Macht der demokratischen Massen war, Henry David Thoreaus Feier des Individuums oder Friedrich Nietzsches Verachtung für das Kollektiv.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wikipedia - ein Musterbeispiel für stumpfen Kollektivismus?

Das Ende der Weisheit der Vielen

Auch die jüngste Euphorie für die Weisheit der Vielen fand ihre Kritiker. Ein Schlüsseltext war der Essay "Digitaler Maoismus", den der Computerwissenschaftler Jaron Lanier vor zwei Jahren veröffentlichte. Ähnlich wie Surowiecki zog auch Lanier ein leicht verständliches Erklärungsmodell aus den Massenmedien zu Rate - das Internetlexikon Wikipedia. Für Lanier ist dieser Versuch eines gemeinsam erarbeiteten Weltwissens nichts anderes als das Musterbeispiel für stumpfen Kollektivismus.

Lanier differenziert: "Im Schnelldurchlauf würde ich die Grenze zwischen effektivem Kollektivdenken und Schwachsinn wie folgt definieren", schrieb er. "Das Kollektiv kann immer dann Klugheit beweisen, wenn es nicht die eigenen Fragestellungen definiert; wenn die Wertigkeit einer Frage mit einem schlichten Endergebnis, wie einem Zahlenwert festgelegt werden kann; und wenn das Informationssystem, welches das Kollektiv mit Fakten versorgt, einem System der Qualitätskontrolle unterliegt, das sich in einem hohen Maße auf Individuen stützt."

Für Surowiecki liegt der Fehler weniger im System an sich, als in ganz präzisen Störfaktoren. Wenn ein Kollektiv zu homogen, zu zentralisiert, zu uneinig, zu reflexhaft oder zu emotional agiert, kann es zu Katastrophen kommen. Nur unabhängige, starke Meinungen können im Internet oder dem Finanzmarkt zu einem bestmöglichen Ergebnis führen.

Der Gegenbeweis scheint nun erst einmal erbracht. Auch das konnte man an einem schlichten Beispiel im Fernsehen beobachten. Als Barack Obama sich am 7. November in Chicago zum ersten Mal nach seiner Wahl zum Präsidenten der Presse stellte, übertrug CNN die Pressekonferenz weltweit mit den üblichen Börsentickern an den Bildrändern. Rechts unten konnte man dabei die Tagesentwicklung des Dow Jones sehen, der an diesem Tag 255 Punkte gewonnen hatte. Als Obama nun die Bühne betrat, sprang der Dow um fast zwanzig Punkte nach oben. Als der designierte Präsident von Steuererhöhungen sprach, dauerte es nur Sekunden, bis der Börsenindex zweistellige Punktzahlen verlor. Am Schluss der Konferenz hatte er gut einhundert Punkte verloren.

Neue Sehnsucht

Vier Wochen später das umgekehrte Beispiel. Während einer Rede von Obama zur Wirtschaft, in der er massive Konjunkturpakete ankündigte, sprang der Dow Jones um 300 Punkte nach oben. Ist ein Markt, der so direkt und hysterisch reagiert nicht das perfekte Beispiel für die unberechenbare Dummheit des Kollektivs? Und ist die Wirtschaftskrise nicht der Beleg dafür, dass die vermeintliche Weisheit der Vielen auf dem freien Markt nur zum Reichtum für die Wenigen führt?

Die neue Sehnsucht nach den starken Einzelnen, die Verehrung für vermeintlich Weise wie Exkanzler Helmut Schmidt, den Papst oder den Investor Warren Buffett ist sicher ein schwerer Rückschlag für die Theorie von der Weisheit der Vielen. Um die Debatte um Vernunft und Unvernunft des Kollektivs wird man jedoch auch in Zukunft nicht herumkommen. Das Internet sorgt in atemberaubender Geschwindigkeit für neue Formen sozialer Interaktion. Der freie Markt ist zwar in der Krise, doch ohne kollektives Handeln kann er nicht existieren. Und auch die Politik muss sich mit der Weisheit der Vielen im demokratischen Prozess auseinandersetzen. Denn eines hat die Geschichte bewiesen - jede Flucht unter die Fittiche starker Individuen hat zu weit größeren Katastrophen geführt, als das Chaos der Freiheit.

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