Serie: Finanzfrauen:Ein Herz für die Armen

Beatrice Webb stammte aus gutem Haus, widmete ihr Leben aber der Erforschung von Not und Elend. Im Alter huldigte sie der Sowjetunion.

Von Björn Finke

Sie war die Tochter eines Eisenbahn-Magnaten - und setzte sich für die Armen ein. Ihre Mutter hielt das Mädchen für wenig intelligent, doch als Erwachsene war sie eine Vorreiterin der Sozialwissenschaften. Sie stieß die Gründung einer renommierten Wirtschafts-Hochschule an. Im Alter begeisterte sie sich für Stalin und sowjetische Wirtschaftsplanung: Beatrice Webb war eine ebenso einflussreiche wie widersprüchliche Intellektuelle.

Ohne die englische Soziologin gäbe es heute weder die Kaderschmiede London School of Economics (LSE) noch das linke britische Politik-Magazin New Statesman. Und der Sozialstaat im Vereinigten Königreich - und in vielen anderen Ländern - sähe wohl auch anders aus. Trotzdem schaffte es die 1858 geborene Webb in ihrer Heimat nicht zum Idol der Linken. Ihr später Flirt mit dem Sowjet-Kommunismus und eine gewisse Gefühlskälte, die Kritiker schon zu Lebzeiten beklagten, machen sie nicht gerade zum Sympathieträger.

Dabei sind viele ihrer scharfsinnigen Analysen zeitlos relevant. So schrieb sie 1931 über die damalige Wirtschaftskrise etwas gedrechselt: "Wir wissen nun, wie sehr wir uns getäuscht haben mit der Annahme, die Finanzbranche habe das Wissen oder den guten Willen, jenes Land zu schützen, über dessen finanzielle Interessen sie waltet." Unfähige oder unwillige Banker, die der Wirtschaft ihres Landes schaden statt sie vor Turbulenzen zu bewahren - so eine Diagnose hätte auch gut zur jüngsten Finanzkrise gepasst.

Geboren wird die Forscherin als Beatrice Potter, die achte von neun Töchtern. Das Verhältnis zu ihrer Mutter ist schwierig, umso enger ist es zum Vater, der Eisenbahn-Gesellschaften leitet. Ein Freund der Familie ist der Philosoph Herbert Spencer, er ist Lehrer und Vorbild der wissbegierigen Tochter.

Ende des 19. Jahrhunderts ist Großbritannien eine Weltmacht; dank der industriellen Revolution produzieren die Fabriken im Königreich mehr denn je, doch zugleich leben viele Arbeiter in bitterster Armut. Die junge Potter interessiert sich für das Schicksal der Armen, engagiert sich bei einer wohltätigen Stiftung. Aber sie will nicht nur helfen, sie will ganz genau wissen, wie diese Menschen leben. Daher zieht sie unter falschem Namen zu weitläufigen Verwandten der Mutter, die in Textilfabriken schuften. Ihre Eindrücke schildert sie in Briefen an den Vater.

Serie: Finanzfrauen: Beatrice Webb wurde im Jahr 1858 geboren. Sie gilt als Vorreiterin der Sozialwissenschaften.

Beatrice Webb wurde im Jahr 1858 geboren. Sie gilt als Vorreiterin der Sozialwissenschaften.

(Foto: Hulton Archive/ Getty Images)

Im Jahr 1887 beginnt dann ihre echte Forscherkarriere. In London unterstützt sie ihren Cousin Charles Booth bei dessen groß angelegter Studie über die Lebensverhältnisse der Armen in der Hauptstadt. Sie veröffentlicht ihre ersten Artikel. Im Auftrag von Booth arbeitet die junge Frau auch verkleidet in einer Textilfabrik und berichtet einem Ausschuss des Parlaments über ihre Erfahrungen.

Schon vorher hat sie einen bekannten Abgeordneten kennengelernt - und sich stürmisch in ihn verliebt: Joseph Chamberlain sitzt für die Liberalen im Parlament. Die beiden treffen sich über mehrere Jahre hinweg, aber der Witwer sucht eine Frau, die brav den Haushalt führt. Potter will weiter als Soziologin arbeiten und die Situation der Armen verbessern, also wird nichts aus der Beziehung. Dafür lernt die Wissenschaftlerin 1890 Sidney Webb kennen, einen Staatsangestellten aus einfachen Verhältnissen, der einer der führenden Köpfe der Fabian Society ist.

Ihren Gatten findet die Frau hässlich. Sie sagt: "Ich heirate nur deinen Kopf!"

In dieser Gesellschaft versammeln sich Intellektuelle, um für sozialistische Ideen zu werben. Viele Mitglieder gehören später zu den Gründern der britischen Labour Party. Auch Potter ist nach ihren Erfahrungen in den Slums und Fabriken Sozialistin. Sie bewundert Sidneys Verstand, hat für sein Aussehen aber wenig schmeichelhafte Worte übrig. Er habe Glupschaugen und einen kleinen, dicklichen Körper, klagt sie. Potter nimmt ihn trotzdem zum Mann - und schreibt ihm in einem Brief: "Ich heirate nur deinen Kopf!" Romantik ist der Wissenschaftlerin nach der Enttäuschung mit Chamberlain offenbar fremd. Weggefährten beklagen allgemein, von ihr gehe eine gewisse Kälte aus.

Vor ihrem Vater hält Potter die unstandesgemäße Verlobung mit dem Sozialisten aus einfachem Elternhaus geheim. Erst nach dessen Tod 1892 trauen sich die beiden. Das Erbe von Beatrice erlaubt dem Paar, sich auf seine Forschung zu konzentrieren. Das Duo veröffentlicht in den kommenden fünfzig Jahren zusammen zahlreiche Bücher und Aufsätze. Im Jahr 1894 erscheint ihr einflussreiches Werk über die Geschichte der Gewerkschaften. Lenin höchstpersönlich übersetzt es später ins Russische. Weitere Themen sind Genossenschaften, Kommunalpolitik und immer wieder das Schicksal der Armen.

Serie: Finanzfrauen: Diese Frauen haben die Finanzwelt bewegt. SZ-Serie, Teil 26.

Diese Frauen haben die Finanzwelt bewegt. SZ-Serie, Teil 26.

In ihrem Haus in der Nähe des Parlaments laden die beiden zu politischen Salons; in den munteren Diskussionsrunden wollen sie Spitzenpolitiker aller Parteien von ihren Ideen überzeugen. Premierminister gehen ein und aus bei den Webbs.

Im Jahr 1895 gründen die Webbs zusammen mit anderen Mitgliedern der Fabian Society die London School of Economics; die neue Universität soll die Sozialforschung im Königreich verbessern. Das Paar und ihre Mitstreiter bauen auch ein bedeutendes politisches Magazin auf, den New Statesman, dessen Auflage heute immer noch bei gut 30 000 Exemplaren liegt.

Beatrice Webbs nachhaltigstes Werk ist aber ihr Minderheitsbericht für eine Regierungskommission. 1905 wird sie in ein Experten-Gremium berufen, das über eine Reform der Armenfürsorge nachdenken soll. Ihre Ideen sind der Mehrheit der Fachleute viel zu radikal. Weil sich Webbs Vorschläge nicht im Abschlussbericht wiederfinden, veröffentlichen sie und drei andere Mitglieder der Kommission einen mehr als 700 Seiten starken Minority Report. Darin beschreibt Webb die Grundzüge eines modernen Sozialstaats, der allen Bürgern würdige Lebensumstände sichert und sie bei Krankheit, Arbeitslosigkeit oder im Alter ausreichend unterstützt.

Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg - und somit nach Webbs Tod 1943 - knüpfte die britische Regierung ein derartiges soziales Netz: Das gilt als wichtigstes Vermächtnis der streitbaren Wissenschaftlerin. Ihr Ruf war da allerdings schon lädiert. Denn in den Dreißigerjahren begeisterten sich Webb und ihr Gatte für die Sowjetunion, sie reisten in die Diktatur und veröffentlichten 1935 ein schwelgerisches Buch mit dem Titel "Sowjet-Kommunismus: eine neue Zivilisation?"

Beide Webbs waren da jenseits der 70. Hätten sie einfach ihr Rentnerdasein genossen, hätten sie sich viel Ärger erspart.

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