Sechs Monate AKW-Ausstieg:Wie Deutschland ohne Atomkraft funktioniert

Nach Fukushima kam der Kurswechsel: Vor einem halben Jahr trat das novellierte Gesetz zum Atomausstieg in Kraft, den die Regierung nach der Atomkatastrophe in Japan beschloss. Doch was ist bisher passiert? Gibt es genug Strom oder importiert Deutschland? Drohen Blackouts? Was kostet die Energiewende? Steigen die Preise? Fragen und Antworten.

Hannah Beitzer

Es ist ein weltweit einmaliger Beschluss: Am 6. August, vor genau sechs Monaten, trat das novellierte Atomgesetz in Kraft. Seitdem steht fest, dass Deutschland endgültig aus der Kernenergie austritt. Erste Reaktoren gingen sofort offline. Strom kommt immer noch aus der Steckdose, doch die Energielandschaft wandelt sich. Eine erste Bilanz.

Bundesregierung plant 40 Offshore-Windparks in Nordsee und Ostsee

Die Bundesregierung plant noch viel Offshore-Windparks in Nordsee und Ostsee. Der Offshore-Windpark Lillgrund im Oeresund zwischen Malmoe und Kopenhagen ist unter Mitarbeit von Siemens entstanden. Foto: Siemens AG/ddp

(Foto: ddp)

Welche Atomkraftwerke sind vom Netz gegangen?

Nach dem Atomunglück im japanischen Meiler Fukushima-1 sind in Deutschland 2011 acht Atomreaktoren abgeschaltet worden: In Niedersachsen das Kraftwerk Unterweser, in Schleswig-Holstein Krümmel und der Meiler in Brunsbüttel, in Hessen Biblis A und B, in Baden-Württemberg Philippsburg und Neckarwestheim und in Bayern der Reaktor Isar 1. Die verbleibenden neun Atomkraftwerke sollen schrittweise bis 2022 vom Netz (hier die Liste mit den Daten im Gesetz).

Importiert Deutschland nun Atomstrom?

Wenn der Wind stark ist, exportiert Deutschland immer noch mehr Strom als es importiert. Aber einen so starken Exportüberschuss wie früher gibt es nicht mehr. Nach Zahlen der AG Energiebilanzen exportierte Deutschland 2011 per saldo nur noch fünf Terawattstunden. 2010 waren es noch 17,7 Terawattstunden. Fünf Terrawattstunden Energie sind soviel, als würde jeder Deutsche das ganze Jahr lang über eine Energiesparlampe brennen lassen. Alle deutschen Haushalte zusammen kommen in der Summe auf 140 Terawattstunden im Jahr.

Der größte Teil der Zusatzimporte kommt aus Frankreich, das drei Viertel seines Strommixes aus der Atomkraft bezieht - es kann also vorkommen, dass Deutschland den Ausfall seiner Atomkraftwerke mit Atomstrom aus Frankreich kompensiert. Daran ist aber nicht zwangsweise eine Unterversorgung schuld: Theoretisch könnte Deutschland sich an den meisten Tagen auch selbst versorgen. Doch der Strom aus dem Ausland ist meist billiger als der aus alten deutschen Kohlekraftwerken.

Muss Deutschland Angst vor einem Blackout haben?

Deutschland ist bislang ohne Blackout über den Winter gekommen. Allerdings ist der Stromverbrauch diesen Winter bisher laut der AG Energiebilanzen recht niedrig, dank der - mit Ausnahme der letzten Tage - milden Temperaturen. Die Bundesnetzagentur hat für den Fall, dass der Strom knapp wird, eine sogenannte "Kaltreserve" aus alten Kohle- und Gaskraftwerken zur Verfügung. Die eigentlich abgeschalteten Kraftwerke könnten wieder in Betrieb genommen werden, wenn der Strom knapp wird. Insgesamt hat die Bundesnetzagentur in Deutschland Reserve in Höhe von 1000 Megawatt ermittelt. Hinzu kommen 1075 Megawatt Reservestrom aus Österreich.

Einem Bericht der Berliner Zeitung zufolge beklagt jedoch der Verband der Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft, dass seit der Energiewende die Anzahl kurzzeitiger Stromausfälle zunähme. Es sei ärgerlich, dass diese nicht erfasst würden, wenn sie kürzer als drei Minuten dauerten. Der Verband vertritt rund 350 Mitglieder aus energieintensiven Branchen wie Stahl, Papier, Zement, Glas und Chemie, die etwa 80 Prozent des industriellen Stroms in Deutschland verbrauchen. Schon kurze Augenblicke ohne Strom könnten einen großen Schaden in manchen Industriezweigen anrichten, warnt der Verband.

Wie geht der Ausbau von erneuerbaren Energien voran?

Wie geht der Ausbau von erneuerbaren Energien voran?

Die erneuerbaren Energien sind im Jahr 2011 im Erzeugungsmix erstmals an Kernenergie und auch Steinkohle vorbeigezogen und zum zweitwichtigsten Energieträger bei der Deckung des Strombedarfs aufgestiegen, nach der Braunkohle. Der Anteil der Erneuerbaren stieg in diesem Jahr auf 19,9 Prozent - im Jahr zuvor waren es 17 Prozent. Das geht aus ersten Schätzungen des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) für das Jahr 2011 hervor.

From Moonscape To Lake District: East Germany's Coal Mines

Jänschwalde in Brandenburg: Windturbinen produzieren Strom - im Hintergrund die Kühltürme des Braunkohlekraftwerks.

(Foto: Sean Gallup/Getty Images)

Schwach sieht es noch beim Thema Heizen aus: Hier liegt der Anteil von Öko-Energie 2011 bei 10,1 Prozent - das ist im Vergleich zu 2010 sogar ein leichter Rückgang. Damals waren es 10,2 Prozent.

Worauf stützt die Regierung die Energiewende?

Ziemlich großzügig war die Regierung bisher vor allem mit der Förderung von Solaranlagen. Bisher erhalten die Ökoenergie-Erzeuger feste Vergütungen pro Kilowattstunde Strom. Die Differenz zwischen den am Markt für den Strom erzielten Preisen und der Vergütung zahlen die Verbraucher per Umlage über den Strompreis. Bei einem Durchschnittshaushalt machen die Förderkosten derzeit etwa 125 bis 130 Euro aus.

Die Solarförderung war auch 2011 wieder höher als erwartet. Im gesamten Jahr 2011 waren es 7500 Megawatt und damit nochmals um 100 Megawatt mehr als im Rekordjahr 2010, alleine auf den Dezember entfielen 3000 Megawatt. Wirtschaftsminister Philipp Rösler will die Förderung eindämmen. "Das sprengt auf Dauer das System und ist nicht zukunftsfähig", wird er nicht müde zu betonen. Zwischen Förderhöhe und Nutzen der Photovoltaik bestehe ein "eklatantes Missverhältnis, das mir weder volkswirtschaftlich noch energiewirtschaftlich sinnvoll oder zukunftsfähig erscheint". Der Streit belastet vor allem das Klima zwischen FDP-Mann Rösler und Umweltminister Norbert Röttgen (CDU). Eine Einigung ist bisher nicht in Sicht.

Statt auf Solar soll in der Energiewende vermehrt auf Windräder gebaut werden. Der Ausbau der Windkraft wird inzwischen mit einem Sonderkreditprogramm der KfW gefördert.

Wie reagieren die Energiekonzerne?

Die großen Energieunternehmen müssen nach dem Atomausstieg massiv umsteuern. Eon hat bereits Mitte Dezember ein milliardenschweres Investitionsprogramm von sieben Milliarden Euro für erneuerbare Energien angekündigt.

RWE zieht nach: Der Konkurrent aus Essen will bis 2015 fünf Milliarden Euro in den Bereich investieren, vor allem in Windparks auf hoher See. Konventionelle Kraftwerksprojekte werden in den nächsten Jahren noch zu Ende gebracht, neue stehen nicht an. Beide Konzerne werden außerdem weiter massiv Stellen abbauen, um Kosten zu sparen.

Was kostet die Energiewende?

Die Kosten, die mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien verbunden sind, werden nach BDEW-Schätzungen im Jahr 2012 auf mehr als 14 Milliarden Euro steigen.

Was sind die drängesten Probleme?

Die größte Schwierigkeit ist der Ausbau der Stromnetze. So kann es hier zum Beispiel passieren, dass an windreichen Tagen gar nicht der ganze Strom von Nord- nach Süddeutschland transportiert werden kann. So war das zum Beispiel am 8. und 9. Dezember 2011, wie die Welt berichtete. Damals sorgte das Sturmtief Ekkehard zwar für eine volle Auslastung der Windräder im Norden - doch es fehlten die Leitungen, um den Strom nach Bayern und Baden-Württemberg zu transportieren. Der Netzbetreiber Tennet musste deswegen Strom für Süddeutschland in Österreich besorgen.

Hier zeigt sich ein grundsätzliches Problem: Die Stromproduktion verlagert sich wegen des Ausbaus der Windkraft mehr und mehr nach Norden, verbraucht wird der Strom aber hauptsächlich im Westen und Südwesten der Republik, weil hier diejenigen Industriezweige sitzen, die am meisten Energie verbrauchen. Die Deutsche Energieagentur (Dena) geht davon aus, dass bis 2020 knapp 4500 Kilometer zusätzlicher Stromnetze benötigt werden (Link zur Studie hier).

Außerdem kommt der Ausbau der Windkraft zu langsam voran: Circa 10.000 Windräder sollen eigentlich auf dem zu Deutschland gehörenden Festlandsockel von Nord- und Ostsee bis 2030 mit einer Leistung von 25 Gigawatt zur Energiewende beitragen - doch stehen derzeit erst 27 mit einer Leistung von 135 Megawatt. Auch RWE beklagt, dass der Genehmigungsprozess für die meisten der 25 geplanten Windparks immer noch weit vom Abschluss entfernt sei. Die praktischen Probleme im Genehmigungsverfahren reichten vom Schallschutz für Schweinswale bei den Bauarbeiten über die Anbindung der Windparks ans Stromnetz bis zu - nach Auffassung von RWE - überzogenen Normen für die Fundamente der Windanlagen.

Bedeutet der Atomausstieg automatisch, dass der Strompreis steigt?

Es ist ein Auf und Ab: In den ersten Wochen nach Fukushima-1 und dem Atom-Moratorium Mitte März stieg der Börsenpreis am Terminmarkt abrupt um rund 15 Prozent. Die AKW-Betreiber mussten nach Stilllegung ihrer Kraftwerke schnell Ersatzstrom kaufen. Gegen Ende 2011 ist der Preis an der Leipziger Strombörse wieder auf ein Niveau vor dem Moratorium gesunken, weil es genügend einsatzbereite Kraftwerke gab, um den Ausfall der acht Atommeiler zu kompensieren.

Für private Haushalte klettern die Strompreise dieses Jahr nach oben: Sie werden pro Kilowattstunde rund 0,6 Cent mehr zahlen müssen, hat das Institut für Zukunftsenergiesysteme im Auftrag der Solarbranche kalkuliert. Hochgerechnet auf einen Vier-Personen-Haushalt bedeutet das eine Mehrbelastung von etwa 26 Euro im Jahr. Grund hierfür ist eine Sonderregelung der Bundesregierung. Sie erlässt Konzernen, die viel Energie verbrauchen, anfallende Netzgebühren. Der "Strombonus", also die Kosten für die Nutzung der Netze, wird somit auf die Bürger abgewälzt. Das ARD-Magazin Monitor hat diese Mehrbelastung für die Verbraucher am Beispiel einer Familie aufgezeigt.

Bis 2020 könnte der Strompreis laut Dena um 20 Prozent steigen.

Was sagt die Bevölkerung dazu?

Die meisten Deutschen sind einer Umfrage zufolge weiter bereit, für die Energiewende höhere Strompreise zu zahlen. Knapp ein Jahr nach der Fukushima-Katastrophe würden 61 Prozent Aufschläge für den Ausbau der erneuerbaren Energien hinnehmen, ergab eine repräsentative Forsa-Umfrage im Auftrag des Verbandes Kommunaler Unternehmen von Dezember 2011. Je höher das Einkommen der Befragten, desto ausgeprägter ist demnach die Bereitschaft. Ökostrom wird auch dann akzeptiert, wenn in der Nachbarschaft ein Windpark gebaut werden sollte.

Wer sind die Verlierer des Atomausstiegs?

Die Energiewende hat die Aktien der großen Energieversorger getroffen, ihr Geschäftsmodell wurde dadurch vor eine existentielle Herausforderung gestellt. Am tiefsten fiel 2011 der Kurs von RWE. Deutschlands zweitgrößter Energiekonzern hatte über Jahrzehnte den Ruf, krisenfest zu sein. Doch seit dem Beben in Japan stehen zwei der fünf RWE-Atommeiler still. Die Zukunft gehört nach dem deutschen Atomausstieg Windrädern und Gaskraftwerken. Beides bislang keine Stärke des Unternehmens, das traditionell vor allem auf Atom und Kohle setzte. Auch Eon drohen im Jahresabschluss erstmals in der Firmengeschichte rote Zahlen.

Eon, RWE, Vattenfall und EnBW wollen nach Angaben aus Branchenkreisen in den kommenden Jahren bis zu 20.000 Arbeitsplätze abbauen - gut 10.000 davon in Deutschland. Am härtesten fällt der Sparkurs bei Deutschlands größtem Energiekonzern Eon aus: Das Unternehmen streicht allein in Deutschland 6000 seiner 80.000 Jobs.

Es scheint naheliegend, dass vor allem Solarfirmen von der Energiewende profitieren. Doch das ist ein Trugschluss: Trotz des jüngsten Booms geht es den Solarunternehmen so schlecht wie noch nie. Hauptgrund dafür ist der einzigartige Preisverfall im vergangenen Jahr. Solarzellen wurden um bis zu 50 Prozent billiger. In den USA gingen schon mehrere Hersteller pleite. Ende vergangenen Jahres mussten auch die deutschen Solarfirmen Solon und Solar Millennium Insolvenz anmelden. Q-Cells und Conergy ringen seit längerem um ihr Überleben.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: