Schwimmende Kernkraftwerke:"So zuverlässig wie eine Kalaschnikow"

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Russland will auf Schiffen Atomstrom erzeugen, um abgelegene Regionen vom Meer aus mit Energie zu versorgen. Die Idee soll zum Exportschlager werden.

Moritz Jäger

Die wiedererstarkende Atommacht Russland erregt mit einem ungewöhnlichen Vorhaben Aufsehen. In der abgeschotteten Militärwerft Sewmash im arktischen Hafen Sewerodwinsk wird derzeit ein schwimmfähiger Kernreaktor produziert.

Wirkt nicht gerade vertrauenserweckend für den Bau eines solch sensiblen Projektes: Der entlegene Militärhafen Sewerodwinsk, 1.267 Kilometer nordöstlich von Moskau. (Foto: Foto: dpa)

Russland plant eine ganze Flotte schwimmender Atomkraftwerke, die besonders entlegene Regionen des Riesenreichs temporär und vom Meer aus mit Strom versorgen soll. Die Energie eines solchen Reaktorschiffs soll den Bedarf einer Kleinstadt decken können.

Der staatlich kontrollierte Konzern Rosenergoatom, Betreiber aller russischen Kernkraftwerke, finanziert 80 Prozent des Projekts, den Rest stemmt Sewmash.

Das Ministerium für Atomenergie und Industrie der Russischen Förderation (Minatom) will die schwimmenden Reaktoren vor den Küsten Sibiriens einsetzen und an Inselstaaten im Pazifischen Ozean vermitteln.

Interessierte Kunden aus dem Ausland

Mehr als 12 Staaten haben bereits Interesse an dem Produkt bekundet - was nicht verwundert: Abgelegene Gebiete mit Engpässen in der Energieversorgung gibt es nicht nur in Russland.

Die Idee, Atomreaktoren nicht nur zur Fortbewegung von Schiffen zu nutzen, sondern auch als mobile Energiespender auf Schiffen, ist schon jahrzehntealt und stammt auch nicht aus Russland: Bereits in den 1970-er Jahren plante der US-amerikanische Stomversorger Westinghouse den Bau solcher Versorgungsvehikel.

Erst im Jahr 2001 propagierte der texanische Kongressabgeordnete Joe Barton, Spitzen im Energiebedarf Kaliforniens mit Strom von Atomschiffen aus der Armeeflotte abzufangen.

Lesen Sie weiter auf Seite 2: 117 Zwischenfälle in 50 Jahren

Dennoch galten russische Marineingenieure zu Zeiten der ehemaligen Sowjetunion als Pioniere in Sachen Kernspaltung. In der zivilen Schifffahrt läutete der Eisbrecher "Lenin" das Atomzeitalter ein. Nach der amerikanischen "Savannah" war das dritte von einem Kernreaktor angetriebene Schiff der deutsche Frachter "NS Otto Hahn".

So sollen die schwimmenden Kernreaktoren aussehen. (Foto: Foto: BBC News)

Im vergangenen Jahr startete der Kreml eine Atom-Offensive: Bis zum Jahr 2020 sollen zu den bestehenden 31 Kernkraftwerken an zehn Standorten auf dem Festland 42 neue Meiler hinzukommen. Derzeit macht Atomenergie 17 Prozent des Gesamtmarktes aus.

Russische Atom-Offensive

Bis der erste Reaktor im Weißen Meer schwimmt, wird es noch etwas dauern. Am 15. April dieses Jahres war die Kiellegung des Prototyps. Sogar das staatliche Fernsehen berichtete von der Zeremonie in Sewerodwinsk.

2010 soll der erste schwimmende Brüter vom Stapel laufen, sagt Sergej Krysov, Chef von Rosenergoatom. Bis 2015 sollen sieben Schiffe fertiggestellt sein, bei einer Bauzeit von jeweils drei Jahren.

Jedes der Schiffe soll mit zwei Reaktoren ausgerüstet werden. Der gerade im Bau befindliche Prototyp misst 140 Meter und wird mit einer Kapazität von voraussichtlich 76 Megawatt weniger als ein Zehntel herkömmlicher Atomkraftwerke zu Land erzeugen.

Abwrackung nach 40 Jahren

Die Trägerschiffe werden außerdem mit Entsalzungsanlagen und Mannschaftsquartieren samt Sauna ausgestattet sein. Alle 12 Jahren sollen sie in Sewerodwinsk einer Generalüberholung unterzogen werden, und abgebrannte Brennelemente und anderen Problemmüll abladen. Nach 40 Jahren sollen die Schiffe abgewrackt werden.

Obwohl noch nicht zu Wasser gelassen, ernten die mobilen Energieerzeuger bereits herbe Kritik. Vladimir Chuprov von Greenpeace Russland zählt 117 Zwischenfälle mit atomgetriebenen Wasserfahrzeugen im Laufe der vergangenen 50 Jahre auf.

Noch in Erinnerung ist der Untergang der "Kursk" am 13. August 2000 etwa 100 Kilometer nördlich von Sewerodwinsk. 117 russische Marinesoldaten starben an Bord des Atom-U-Boots. Bis heute sind die Umstände der Katastrophe nicht vollständig geklärt - oder nicht kommuniziert. Auch die Angst vor einem möglichen Missbrauch durch Terroristen ist groß.

Lesen Sie weiter auf Seite 3: Kontakte zu den Kapverden und nach Indonesien

"Es wird kein schwimmendes Tschernobyl geben", beschwichtigte der Chef von Minatom, Sergej Kirijenko, kürzlich via Nachrichtenagentur ITAR-Tass.

Umweltaktivisten sehen das anders - man denke an Küsten mit extrem rauer See:

"Es besteht das Risiko eines Untergangs. Und es ist riskant, sie ufernah zu vertäuen", kritisiert Charles Digges von der norwegischen Umweltorganisation Bellona.

Die streng gesicherte Militärwerft Sewmash ist der einzige Ort, wo russische Atom-U-Boote gefertigt werden.

Besitz und Betrieb der Reaktorschiffe soll in russischer Hand bleiben, um einen Transfer von sensiblen Informationen zu verhindern - Erinnerungen an das mangelhafte Krisenmanagement nach dem Untergang der Kursk werden wach.

Gefahrenzone angeblich nicht weiter als ein Kilometer

Auch sei das Uranium für die Brennelemente weniger konzentriert als das von nuklearen Waffen. Oleg Samoilov, ein in das Projekt involvierter Ingenieur sagte zu BBC News, die Zivilbevölkerung sei im Unglücksfall jenseits eines Radius' von einem Kilometer nicht gefährdet.

Experten der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien (IAEA) prüfen derzeit die Rechtmäßigkeit und Sicherheit des Vorhabens. Der Generaldirektor von Rosenergoatom, Sergej Obozow, versicherte Journalisten im Juni 2006:

"Die schwimmenden Kernreaktoren werden mindestens so zuverlässig arbeiten wie eine Kalaschnikow" - russischer Humor eben.

Break Even erst nach zehn Jahren

Bedenkenträger melden sich aber nicht nur aus den Reihen der Umweltschützer und Atomexperten, sondern auch aus dem Kreml: Die schwimmenden Brüter seien zu teuer - Preisangaben pro Stück schwanken zwischen 150 und 250 Millionen Euro - und die Kosten amortisierten sich erst nach einem Jahrzehnt Betrieb.

An Absatzmärkten scheint es indes nicht zu mangeln. Mit den Kapverden soll im Juni eine Vereinbarung zur Überprüfung eines möglichen Betriebs von einem Reaktorschiff getroffen worden sein. Während die Lokalpresse das Interesse des Inseltaates bestätigt, mauert die Obrigheit zu der Angelegenheit.

Bemühungen Russlands, mit den schwimmenden Kernreaktoren auch an das von regelmäßigen Stromausfällen gebeutelte Indonesien anzudocken, wurden von offizieller Seite ebenfalls nicht bestätigt.

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