Schienenverkehr:Vom Kurs abgekommen

Die Deutsche Bahn erlebt ihre schwerste Krise seit Jahren. Kein gutes Vorzeichen für Konzernchef Grube, dessen Vertrag bald verlängert werden muss. Es könnte auch ganz anders kommen.

Von Karl-Heinz Büschemann

Der Bahnhof der westfälischen Stadt Dorsten ist steingewordene Tristesse. Fenster und Türen des Gebäudes von 1879 sind vernagelt. Die Reisenden müssen außerhalb des Bahnhofs in heruntergekommener Umgebung auf die Züge warten. Dieser Bahnhof ist keine Werbung für eine Stadt mit 76 000 Einwohnern. Er ist Zeugnis von Vernachlässigung. Er steht für eine falsche Verkehrspolitik, aber auch ein Bahn-Management, das die Misere des Unternehmens nicht in den Griff bekommt.

Rüdiger Grube, der Chef der Deutschen Bahn, kann aus dem Effeff vorrechnen, wie es mit den vergammelten Stationen weitergehen soll. 3200 von 5400 Bahnhöfen müssten renoviert werden, sagt Grube. "Jedes Jahr schaffen wir 100." Für mehr reicht das Geld nicht, und jedes Kind kann sich ausrechnen, dass diese Aufgabe niemals erledigt sein wird. Die Bahnhöfe verfallen schneller, als sie erneuert werden können. Aber es sind ja nicht nur die Bahnhöfe, die ganze Bahn steckt in einer Krise, deren Ende nicht absehbar ist.

Rüdiger Grube steht seit 2009 an der Spitze des größten Staatskonzerns mit etwa 300 000 Beschäftigten und einem Umsatz von 40 Milliarden Euro. Der Zustand der Bahn ist für ihn aber kein Grund zum Verzweifeln: "Es wird sukzessive besser", sagt der 64-Jährige, wohl mit einer gehörigen Portion Zweckoptimismus. Wann immer es Kritik gibt an der Bahn, kommt Grubes Mantra: "Es wird sukzessive besser."

So schlecht wie jetzt ging es dem Staatsbetrieb schon lange nicht mehr. Im vergangenen Jahr hat die Bahn einen Verlust von 1,3 Milliarden Euro gemacht. Das ist der erste Minusabschluss seit zwölf Jahren. Die Fernzüge leiden zunehmend unter den Kampfpreisen der billigen Fernbusse und machen kaum noch Gewinn. Der Güterverkehr litt lange unter Missmanagement und ist ein Sanierungsfall. Der bisher noch gut verdienende Regionalverkehr kommt unter steigenden Preisdruck von privaten Konkurrenten, die ihre Dienste billiger anbieten. Der Bau des seit Jahren umstrittensten Stuttgarter Hauptbahnhofs (Stuttgart 21) verzögert sich weiter und wird teurer als bisher angenommen. Zuletzt gab es handfesten Krach im Vorstand. Vorstandsmitglied Volker Kefer, Stellvertreter von Grube und zuständig für Netz und Technik, will gehen. "Der hat das System Bahn durchdrungen", sagt ein Aufsichtsrat voller Anerkennung über Kefer. Die Suche nach einem kompetenten Nachfolger wird Monate dauern.

Jahrelanges Herumexperimentieren an der Bahn, die 1994 von einer Behörde in eine Aktiengesellschaft umgewandelt worden war, hat nur wenig Fortschritte gebracht. Der umstrittene Hartmut Mehdorn, Chef von 1999 bis 2009, hat es mit dem Börsengang versucht und wurde zum meistgehassten Manager der Republik.

Aber auch der jetzige Chef hat zu wenig bewegt. Noch immer hat ein Viertel der Züge eine Verspätung von mehr als sechs Minuten. Noch immer ärgern sich Fahrgäste über Eil-Gewaltmärsche mit Gepäck vorbei an 400 Meter langen ICE-Fernzügen, die in falscher Reihenfolge auf den Bahnhöfen warten. Die Aufbruchstimmung von einst ist weg. Die Bahn wirkt, als sei sie vom Kurs abgekommen.

Das Unternehmen braucht 30 Milliarden Euro für Investitionen

Anfangs hatte Grube ein paar gute Jahre. "Seit 2012 geht es seitwärts mit der Bahn", klagt ein Aufsichtsrat: "Und 2015 ging es drastisch herunter." Das könne gefährlich werden für Grube: "Wenn bis Ende des Jahres keine Zeichen zu erkennen sind, dass die Bahn ihren Zielen näher kommt, muss man sich fragen, ob Grube verlängert werden kann." Ein Bahner in Berlin zitiert Aufsichtsratschef Utz-Hellmuth Felcht mit harten Worten über die Vorstände: "Wenn wir an der Börse wären, hätten wir alle rausschmeißen müssen." Keine gute Voraussetzung für einen Chef, der Anfang August 65 Jahre alt wird, und dessen Vertrag Ende 2017 ausläuft. Bis Ende des Jahres muss nach den Gepflogenheiten der Vertrag verlängert werden.

Lokführerstreik - Dresden

Lange Wartezeiten, verpasste Anschlusszüge: Ein Viertel der Züge hat eine Verspätung von mehr als sechs Minuten. Das ärgert viele Bahnkunden.

(Foto: Arno Burgi/dpa)

Grube war in den Augen von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) der richtige Bahnchef, nachdem Mehdorn mit dem Plan, die Verkehrsbehörde Bahn zu einem Dax-Konzern zu machen, bei Bahnkunden wie Politikern auf Unverständnis gestoßen war. "Die haben gespart wie die Narren", sagt ein Aufsichtsrat über die Zeiten des Kostenkillers. Bis die Kanzlerin als wahre Chefin der Bahn die Schlagzeilen um Mehdorn leid war und die Affäre um das Ausspähen von E-Mails bei der Bahn zum Anlass nahm, den knorrigen Manager abzulösen.

Der Nachfolger ist diplomatischer. Der Hamburger holte die Bahn aus den Schlagzielen. Grube trug die umstrittenen Börsenpläne zu Grabe, er erfand eine neue Strategie mit dem schönen Namen DB 2020, die den Umsatz bis 2020 auf etwa 70 Milliarden Euro und die Rendite auf das eingesetzte Kapital von sechs auf zehn Prozent heben soll. Die Züge sollen pünktlicher und die Bahn zum Ökokonzern werden, der mehr als ein Drittel seines Stroms aus erneuerbaren Quellen holt.

Davon ist die Bahn weit entfernt. Doch dass die Bahn nicht von der Stelle kommt, lässt Grube nicht auf sich sitzen. Er habe "in langen Kämpfen" dafür gesorgt, dass die Zuschüsse des Bundes für Investitionen in Schienen und Bahnhöfe von drei auf vier Milliarden Euro pro Jahr angehoben wurden. Er sei "stolz darauf, die Dienstleistungsbereitschaft des Unternehmens gehoben zu haben". Die Verwandlung des Konzerns von der Beamtenbahn zum Unternehmen sei mühsam. "So ein Kulturwandel dauert viele Jahre."

Der Konzern werde in den nächsten fünf Jahren 55 Milliarden Euro investieren, referiert er, davon gingen 40 Milliarden in Schienen oder Bahnhöfe. Ein Drittel der Stellwerke bei der Bahn sei älter als 100 Jahre und müsste erneuert werden, bis 2019 würden mindestens 875 Brücken repariert, referiert Grube aus dem Kopf. Die Bahn leide unter einem Investitionsstau, der bei der Bahn auf 30 Milliarden Euro geschätzt wird. In der Vergangenheit sei viel zu wenig in Schienen und Züge gesteckt geworden.

Wenn Grube in Fahrt gerät, kann er die Zukunft der Bahn mitreißend darstellen. Bis Ende 2016 sollen alle ICE-Züge mit stabilem Internet-Zugang ausrüstet sein, was im Ausland allerdings längst Standard ist. Auch auf der Straße will der Bahnchef mitmischen, zum Beispiel bei Lkw ohne Fahrer. "Die Deutsche Bahn wird auch zum Betreiber von autonomen Fahrzeugen." Seine Vision: "Wir digitalisieren im Moment den Konzern." Weichen und Rolltreppen in Bahnhöfen sollen bald selbst ihren Zustand über das Internet melden, um Störungen gar nicht erst auftreten zu lassen. Die englische Tochter Arriva habe ihren Marktanteil gesteigert, schwärmt er. Auch ein Erfolg für ihn, sagt Grube.

Das kann man auch anders sehen. Christian Böttger ist Professor an der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin, und er hat einen tiefen Blick in die Bahn und ihre Bilanzen geworfen. Die Aussichten des Konzerns sieht er skeptisch: "Die Bahn ist in kritischer Höhe überschuldet", sagt der Professor. "Der Gewinn geht seit Jahren zurück." Wegen ihrer Expansionsstrategie unter Mehdorn und Grube mache die Bahn inzwischen die Hälfte ihres Umsatzes mit Geschäften außerhalb der Eisenbahn in Deutschland, also mit Lkw-Transporten oder Bahnen im Ausland. Aber sie mache damit nur 20 Prozent des Gewinns. Die Bahn zu Hause müsse daher die Nebengeschäfte der Bahn finanzieren, klagt Böttger. "Es ist nicht erkennbar, wie die Bahn AG die anstehenden Investitionen von Milliarden Euro allein im Fernverkehr finanzieren kann." Sein Urteil über Grube: "In einem börsennotierten Unternehmen wäre der Chef in einer ähnlichen Konstellation wohl abgelöst worden."

Es kommt auf die Kanzlerin an, sagen Kenner der Berliner Szene

Doch Grube will bleiben. Er sei "den Mitarbeitern gegenüber verpflichtet", sagt er kämpferisch. Er laufe nicht davon, sagt der Bauernsohn zur Begründung: "Auf dem Hof der Eltern habe ich gelernt, zu Ende zu bringen, was man angefangen hat."

Es kommt auf die Kanzlerin an, sagen Kenner der Berliner Szene. Sie habe möglicherweise keine Lust, sich 2017 wegen schlechter Zahlen der Bahn den Bundestagswahlkampf vermiesen zu lassen. Im Bundesverkehrsministerium seien wichtige Schutzengel Grubes inzwischen vom Bahnchef enttäuscht.

Aber wer ist der richtige Bahnchef? Ein Manager mit Industrieerfahrung, wie Mehdorn oder Grube sie mitbrachten, ist für den schwierigen Job nicht in Sicht. Wer will sich schon für ein Gehalt von anderthalb Millionen Euro in guten Jahren von Politikern, Gewerkschaften oder Aufsichtsräten herumkommandieren lassen, wenn er in der Industrie viel mehr verdienen könnte.

Einer, der aus der Politik kommt und sich mit Kanzlerin Merkel gut versteht, stünde bereit: Ronald Pofalla war von 2009 bis 2013 Bundesminister für besondere Aufgaben. Seit 2015 sitzt er im Bahn-Vorstand. Der CDU-Politiker ist inzwischen 57 Jahre alt. Viel Zeit hat der Quereinsteiger nicht mehr, auf seine Berufung zum Chef der Bahn zu warten. Doch im Aufsichtsrat heißt es, Pofalla sei noch nicht reif für die Aufgabe. Er müsse noch operative Erfahrungen sammeln. Aus der Umgebung von Grube wird gestreut, Pofalla an die Spitze zu setzen, wäre ein Fehler. Die Berufung gäbe das fatale Signal, die Bahn käme wieder unter die Fuchtel der Politik, so wie früher.

Grube kann wohl weitermachen, mangels Alternative.

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