Schienenkartell:Aussage gegen Aussage

Es ist einer der aufsehenerregendsten Kartellfälle der Nachkriegszeit: Stahlkonzerne sprachen bei Schienen die Preise ab. Im Prozess beschuldigen sich die Angeklagten jetzt gegenseitig.

Von Kirsten Bialdiga, Bochum

Es hat diesen Moment gegeben, da wäre Umkehr noch möglich gewesen in all den Jahren des Schienenkartells. Einer der Angeklagten erinnert sich genau: Im ICE von Berlin nach Essen, da hätten sie darüber gesprochen, die Preisabsprachen mit den Konkurrenten im Schienenmarkt zu beenden. Kurz darauf trafen sich die Thyssen-Krupp-Manager zu einer Besprechung im kleinen Kreis. Er selbst habe zu bedenken gegeben, dass ein Ende der Kartellabsprachen gravierende Konsequenzen für den Konzern gehabt hätte. Ein Vertrag über die Lieferung von 100000 Tonnen Schienen an die Deutsche Bahn wäre verloren gegangen, die Gewinnmargen wären eingebrochen. Für kurze Zeit herrschte Ratlosigkeit unter den Kartellbrüdern. Dann habe ein Vorgesetzter entschieden: "Weitermachen."

Und so nahmen die Machenschaften in einem der aufsehenerregendsten Kartellfälle der Nachkriegszeit noch viele weitere Jahre ihren Lauf. Sich selbst und den beteiligten Unternehmen wie Thyssen-Krupp, Voestalpine oder Stahlberg Roensch hätten die Manager eine Menge ersparen können, wenn sie das Kartell rechtzeitig angezeigt hätten: Den Angeklagten drohen nun eine Haftstrafe von bis zu fünf Jahren sowie Schadensersatzforderungen. Allein für Thyssen-Krupp summiert sich der Schaden auf einen dreistelligen Millionenbetrag, den sich der Konzern von seinen ehemaligen Mitarbeitern zurückzuholen versucht. Bisher aber ohne Erfolg.

Harald B. ist an diesem Montagmorgen im Bochumer Landgericht der erste Angeklagte, der auspackt. Schon sehr lange habe er gewusst, dass es Kartellabsprachen gab, gesteht er. Nur wenige Monate, nachdem er 1990 bei Krupp in Essen angefangen hatte, kam ihm einiges seltsam vor. Als er ein Angebot für ein Schienenprojekt in Ostdeutschland abgeben sollte, habe man ihm bedeutet, Preise in vorgegebene Listen einzusetzen. Als er dann einen Nachlass geben wollte, um die Chancen für den Zuschlag zu erhöhen, wurde ihm schnell klar, dass dies nicht erwünscht war. "Bei anderen Ausschreibungen läuft das gegen uns", habe es geheißen.

Abhörsichere Mobiltelefone waren zu teuer, die Kartellbrüder einigten sich auf Prepaid-Handys

Doch diese Taten sind längst verjährt. Vor dem Bochumer Landgericht geht es um den Zeitraum von 2006 bis 2011. Und hier belastet der frühere Geschäftsbereichsleiter seine Vorgesetzten schwer. "Auch Herr S. ist sehr genau über die Absprachepraxis informiert gewesen." So habe Uwe S. beispielsweise angeregt, eigens für die konspirativen Telefonate Prepaid-Handys zu kaufen, die man nicht mit den Firmen in Verbindung bringen konnte. Der Vorschlag, abhörsichere Mobiltelefone zu kaufen, sei zuvor verworfen worden, offenbar weil die anderen Schienen-Manager sie mit rund 1000 Euro pro Stück für zu teuer hielten.

Zunächst seien die Angebote der vermeintlichen Wettbewerber über Listen abgestimmt worden, später per Laptop, um den "Wust an Preisvereinbarungen" in den Griff zu bekommen. Flüssig spult Harald B. die Fakten herunter, ablesen muss er sie nicht. Wie groß seine Distanz zum früheren Arbeitgeber und den Kollegen ist, lässt sich schon an seinem Äußeren ablesen: Er trägt den Hemdkragen offen. Bei Krupp wie auch später bei Thyssen-Krupp, wo leitende Manager maßgeschneiderte Anzüge trugen, wäre das undenkbar gewesen.

Ganz anders Uwe S. Im perfekt sitzenden Anzug mit blütenweißem Hemd hatte der 58-Jährige kurz zuvor seine Sicht der Dinge vorgetragen. Im Stehen, jedes Wort liest er ab. Der frühere Thyssen-Krupp-Spartenvorstand bestreitet die Vorwürfe. Von dem Kartell habe er erst im Mai 2011 erfahren, als bereits Büroräume durchsucht worden waren: "Ich war entsetzt. An den Vorwürfen war also tatsächlich etwas dran", trägt er ohne erkennbare Emotionen vor. Das Strafverfahren gegen sich empfinde er als "extrem belastend und ehrabschneidend", was durch die von Thyssen-Krupp erhobenen Zivilklagen noch verstärkt werde.

Auch wenn sich die beiden Angeklagten gegenseitig schwer belasten, in einer Hinsicht sind sie sich einig: Die Compliance bei Thyssen-Krupp sei zu lasch gewesen, meint Uwe S., er habe sich fälschlicherweise zu lange darauf verlassen. Tatsächlich seien die Regeln für gute Unternehmensführung unterdrückt worden - mit Wissen der Konzernzentrale. Und Harald B. schildert, wie über Compliance-Verstöße "mit einem Augenzwinkern" hinweggegangen worden sei. Kam es doch einmal zu einem Kontrollgespräch, sei er von Vorgesetzten vorsorglich eingenordet worden: "Denken Sie daran, es gibt bei uns keine Absprache."

Als das Kartell aufgeflogen war, musste Uwe S. sofort Urlaub nehmen. Kurz darauf sei er ausgeschieden. Im gegenseitigen Einvernehmen und mit einem guten Arbeitszeugnis.

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