Schadstoffe:Im Schneckentempo

Experten sprachen seit Jahren darüber, dass Autos auf der Straße mehr Schadstoffe ausstoßen als auf dem Prüfstand. Nur ist deswegen nie etwas passiert.

Von Thomas Fromm und Klaus Ott, Berlin

Es war natürlich nur eine von vielen Techniken, um bei Abgasmessungen zu tricksen. Wenn auch die wohl mit Abstand perfideste, die bislang enttarnt wurde. VW, Europas größter Autokonzern, hatte bei elf Millionen Diesel-Fahrzeugen eine Software eingesetzt, die Abgasmessungen so manipulierte, dass Testergebnisse verfälscht wurden. Und zwar nicht nur ein wenig, sondern grob. Eine Software, die erkannte, wann ein Fahrzeug auf dem Prüfstand getestet wurde und wann es frei war, also: auf der Straße rollte. Als die Sache schließlich in den USA aufflog, stellten die Prüfer fest, dass VW-Diesel im Alltagsbetrieb die festgelegten Emissionsgrenzen um das bis zu 40-Fache überschritten. Klar: Getrickst wurde auch früher. Mal wurden die Karosseriespalten abgeklebt, mal der Reifendruck bis zum Anschlag hochgepumpt. Aber erst der Fall VW sorgte für ein Umdenken - und rief die Politik auf den Plan. Endlich - denn ahnungslos war man keineswegs gewesen, Warnungen hatte es genug gegeben.

Es ist die Geschichte eines langen Lernprozesses, und sie begann wahrscheinlich mit einem Brief. Einem Schreiben, das man so gar nicht erwartet hätte, weil es ausgerechnet vom Allgemeinen Deutschen Automobil-Club e.V., kurz ADAC, kam. Das ist die größte Lobbyorganisation der fahrenden Bevölkerung; ein industrienaher Verein mit vielen Millionen Mitgliedern.

Zwei Seiten hatte der Brief aus München, der Anfang Juni 2010 im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in Berlin einging. Empfänger der Mitteilung: die Abteilung IG im Ministerium, die sich um Immissionsschutz und Gesundheit kümmert, also auch um eine möglichst saubere Luft. Die Lobbyisten machten sich Sorgen über die Abgase von Diesel-Motoren und die Frage, wie und wo die dicke Luft eigentlich gemessen wird. Die Kritik vom Frühsommer 2010 wirkt heute beklemmend aktuell: Strengere Grenzwerte sollten eigentlich dazu führen, den Schadstoffausstoß im Straßenverkehr zu senken, monierte der ADAC. Dieses Ziel werde aber "verfehlt", wenn Abgas-Anlagen der Fahrzeuge so ausgelegt seien, dass gesetzlich erlaubte Werte nur auf dem Prüfstand eingehalten würden, nicht aber draußen auf der Straße. Denn, so die Experten: im "täglichen Betrieb im realen Stadtverkehr" werde ja weiter die Luft belastet, besonders bei Stickoxiden und Stickstoffdioxiden (NO₂). Die Autoindustrie sei gefordert, notierte der ADAC, mit neuen Techniken die Emissionen "über alle Betriebszustände" zu verringern. Sprich, auch im wirklichen Leben und nicht nur auf dem Prüfstand, wenn die Zulassung neuer Fahrzeugtypen ansteht.

Fast sechs Jahre und eine veritable Diesel-Affäre bei Volkswagen später ist man nun wieder genau da: ganz am Anfang. Dabei war über alle die Jahre längst klar gewesen, dass das, was auf dem Prüfstand notiert wurde, nicht das ist, was auf der Straße tatsächlich aus dem Auspuff herauskommt. In den Akten des Umweltministeriums finden sich dazu neben dem ADAC-Brief noch weitere erhellende Unterlagen. Sie dokumentieren, wie schwer es in Deutschland und Europa ist, gesetzliche Grenzwerte zum Schutze der Umwelt durchzusetzen, wenn es gegen die Interessen der einflussreichen und mächtigen Autoindustrie geht. Gegen BMW und Daimler, gegen Fiat und Volkswagen.

Die wahren Krisengewinner

Emden in Niedersachsen ist ein hübsches Städtchen - und ein wichtiger Produktionsstandort für Volkswagen. Der Autokonzern lässt dort den VW Passat fertigen. Davon profitierte die Stadt bislang in mehrfacher Hinsicht: Volkswagen ist der größte Arbeitgeber in der Region und war stets ein verlässlicher Steuerzahler. Bis zur Abgasaffäre. Schon für das Jahr 2015 wird Volkswagen wegen der Krise nicht einen Euro an Gewerbesteuer in Emden bezahlen, der Kämmerer rechnet damit, dass das auch in den kommenden vier Jahren so bleibt. Für die ohnehin klamme Stadt kam dieser Einnahmenausfall völlig überraschend. Allein für 2015 hatte man mit 30 bis 35 Millionen Euro Gewerbesteuer gerechnet, die VW und seine Zulieferer bei der Stadt hätten abliefern sollen. Die fallen nun weg, deshalb muss Emden nun sparen. Und zwar überall. Auf einer Liste mit Maßnahmen, die im Finanzausschuss des Stadtrats liegt, stehen neben einer Erhöhung der Parkgebühren, der Hundesteuer und der Kita-Beiträge, auch diverse Kürzungen. Die Museen etwa müssen künftig mit weniger Fördergeld auskommen. Interessante Auswirkungen auf das Stadtbild könnte aber vor allem eine Maßnahme haben: Emden will bei der Bekämpfung von Ratten sparen. 80 000 Euro weniger sollen dafür ausgegeben werden. Ob bald die Ratten auf den Tischen tanzen? Tatsächlich will die Stadt zunächst versuchen, den Einsparungseffekt vor allem durch eine Neuausschreibung des Auftrags zur Schädlingsbekämpfung zu erreichen. Gelingt das nicht, könnte der größte Profiteur der VW-Affäre nicht die Konkurrenz aus der Branche sein, sondern: die niedersächsische Kanalratte. Angelika Slavik

Dann ist der Fortschritt oft eine Schnecke. Schwer zu begreifen: Wenn ein Häuslebauer den vorgeschriebenen Abstand zum Nachbarn nicht einhält, bekommt er keine Genehmigung. Und seien es Zentimeter, die fehlen. Wenn Diesel-Fahrzeuge jahrelang fünf-, sechs- oder gar siebenmal so viel Schadstoffe in die Luft blasen, wie erlaubt, werden die Autos trotzdem zugelassen. Weil auf dem Prüfstand - aber nur dort - die offiziell vorgeschriebenen Werte eingehalten werden. Erst jetzt handelt die EU, erst jetzt sollen die Schadstoff-Grenzen halbwegs eingehalten werden. In den nächsten Jahren, so ist es in der EU vorgesehen, sollen die tatsächlichen Abgaswerte auf der Straße nur noch gut zweimal so hoch ausfallen dürfen wie eigentlich zulässig: danach nur noch eineinhalbmal so hoch.

Jetzt reden plötzlich alle von strengen Tests, die Bundesregierung, die EU und sogar die Autoindustrie. Diese Woche forderte auch Daimler-Chef Dieter Zetsche bessere Prüfverfahren. Technische Dienstleister wie TÜV und Dekra sollen unabhängiger werden, sollen rotieren, damit keine allzugroße Nähe zu den einzelnen Autokonzernen entsteht. Ein Novum, auch wenn das Problem schon lange bekannt war. Staatliche Prüfstellen sind im Gespräch, ebenso die Pflicht zur Offenlegung der Motorsoftware und eine Nach-Kontrolle der Testergebnisse. Alles längst überfällig.

Die Technische Universität (TU) Graz hatte schon in einer Studie vom November 2010, erstellt im Auftrag des österreichischen Umweltministeriums, die Probleme benannt. Um die hohen Stickstoffdioxid-Emissionen von Diesel-Autos in den Griff zu bekommen, seien andere Tests nötig. Sonst sei auch durch die damals neue Euro-5-Norm keine deutliche Schadstoffminderung zu erwarten. Die Grazer Studie wurde auch im Umweltministerium in Berlin genau gelesen.

Schadstoffe: Alles in Ordnung in der Autowelt?

Alles in Ordnung in der Autowelt?

(Foto: oh)

Euro 5, später Euro 6, das waren die vermeintlichen Zauberformeln, mit denen die EU seit 2008 nach und nach für mehr saubere Luft vor allem in den Städten sorgen wollte. Doch das erwies sich als eine Illusion, vor der Fachleute frühzeitig gewarnt hatten. Die TU Graz formulierte in ihrer Studie vom November 2010, damit die künftige Euro-6-Norm auch eingehalten werde, "sollte das reale Emissionsverhalten möglichst bald bekannt sein". Dieses Wissen sei "für die Entscheidungsträger wichtig, um politische Maßnahmen . . . beurteilen zu können".

Die Grazer Wissenschaftler hatte ihre Studie gerade fertiggestellt, da veranstaltete die Brüsseler EU-Kommission ein erstes Arbeitstreffen wegen der überhöhten Abgaswerte bei Diesel-Fahrzeugen. "Schlussfolgerungen" und "nächste Schritte" lautete der vierte und letzte Tagesordnungspunkt der Sitzung am 23. November 2010. Das klang nach einem nahen Ziel. Tatsächlich aber brauchte es viele Schritte, bis sich die EU im Mai 2015 zu einem neuen Test-Verfahren durchrang. Und es brauchte die VW-Affäre, um unabhängigere Kontrollen durchzusetzen.

Vieles von dem, um das es heute geht, liegt schon seit Jahren als Vorschläge auf dem Tisch. Die Grazer Wissenschaftler beispielsweise hatten schon im November im Detail formuliert, wie mit einem "passenden Testzyklus" deutlich niedrigere Schadstoffwerte durchgesetzt werden könnten, "im realen Verkehr". Insofern hatte die große VW-Trickserei vielleicht auch ihr Gutes - sie hat dafür gesorgt, dass die Schnecke Tempo machte.

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