Samstagsessay:Wolke der Ignoranz

Fast kein Deutscher weiß, dass in kurzer Zeit Hunderte Millionen Menschen der extremen Armut entkommen sind. Diese Unkenntnis ist in der Debatte um Ungleichheit gefährlich.

Von Jan Willmroth

Nicht mehr lange, dann ist Advent, und die zyklische Konjunktur der Helfer-Industrie nähert sich wieder ihrem Höhepunkt. Die dunkle Jahreszeit, erleuchtet von künstlichem Licht, ist auch die Jahreszeit der Faltblättchen, von denen noch immer arme, meist schwarze Kinder blicken, die Zeit der Werbeplakate in Bahnhöfen und der Internet-Spendenaufrufe. Euer Geld gegen Armut, das ist der gewohnte Appell, der sich seit Jahrzehnten im Wesentlichen nur durch die Fortschritte in Grafikdesign und Drucktechnik weiterentwickelt hat.

Mit der Zeit hat diese Konjunktur der Armutsdarstellung eine andere Note bekommen. Heute bringt die Allgegenwart von Echtzeit-Information das Elend ungefiltert auf die Bildschirme, es ist nicht mehr so weit weg wie früher. Die Bilder der Armut blieben weitgehend gleich, sie zeigen, wie groß das Problem extremer Armut noch immer ist. Hinter der Bildfläche aber ist den Ärmsten ein Aufstieg gelungen, der seinesgleichen sucht: Es ist eine neue globale Mittelschicht entstanden, aus dem chinesischen Bauern, dessen Familie hungern muss, ist ein Angestellter in einer Millionenmetropole geworden.

Die Vertreter dieser globalen Mittelschicht sind zwar gemessen am Reichtum in westlichen Sphären noch immer nicht wohlhabend, aber sie haben wirtschaftliche Not und Siechtum hinter sich gelassen, millionenfach, vor allem in China und Indien, wo mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung lebt. Diese neue Mittelschicht kommt in den etablierten Denkmustern nicht vor, wenn es um Armut geht.

Die Einkommen in ärmeren Ländern steigen schneller als in den reichen

Die Omnipräsenz des Elends ist die Grundlage für eine weit verbreitete Fehleinschätzung, für einen blinden Fleck der Wahrnehmung. Die Entwicklungsorganisation Oxfam hat das vor wenigen Wochen belegt. Sie gehört normalerweise zu jenen Netzwerken, die regelmäßig Appelle an westliche Gesellschaften richten, Armut und Ungerechtigkeit zu bekämpfen, und untermauert diese Aufrufe mit dramatischen Zahlen über den Zustand der Welt. Kürzlich aber verbreitete Oxfam eine Umfrage des niederländischen Instituts Motivaction: 99 Prozent der Deutschen unterschätzen die Erfolge im Kampf gegen die weltweite Armut, lautete eines der Ergebnisse. Neun von zehn der weltweit 26 000 Befragten waren überzeugt, die globale Armut sei in den vergangenen 20 Jahren gleich geblieben oder gestiegen.

Das Gegenteil ist der Fall, auf so vielen verschiedenen Ebenen. Die Welt, so sehr Mangel und Armut noch immer den Alltag in vielen Teilen der Welt beherrschen, ist für sehr viele Menschen ein sehr viel besserer Ort geworden als vor 30, 50 oder 100 Jahren. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich ein Prozess immer weiter beschleunigt, in dem Hunderte Millionen Individuen Hunger und Krankheit, extremer Armut und einer geringen Lebenserwartung entkommen sind. Extrem arm ist nach offizieller Definition der Weltbank jemand, der (kaufkraftbereinigt) von weniger als 1,90 Dollar am Tag leben muss. Im Jahr 1980 waren das 1,9 Milliarden Menschen; nach aktuellen Schätzungen ist diese Zahl auf etwas mehr als 700 Millionen gesunken, obwohl die Bevölkerung weiter rapide wächst.

Samstagsessay

Illustration: Lisa Bucher

Nach der Jahrtausendwende hatten die Vereinten Nationen ihre Millennium Development Goals verabschiedet und damals beschlossen, die extreme Armut in der Welt bis 2015 zu halbieren. Zehn Jahre später war das bereits erledigt. Die Einkommen in den Entwicklungs- und Schwellenländern steigen seit langer Zeit schneller als in den reichen Staaten, seit der Finanzkrise hat sich die Aufholjagd relativ noch einmal beschleunigt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschen ist der Sieg über die extreme Armut mehr als nur ein frommer Wunsch.

Der schottisch-amerikanische Ökonom Angus Deaton hat für die zurückliegenden Erfolge das Sinnbild des Ausbruchs geprägt, er schreibt: "Der größte Ausbruch in der Geschichte der Menschheit ist der Ausbruch aus Armut und Tod", und paraphrasiert dieses Bild vielfach. Deaton wird nicht müde, seine Botschaft zu verbreiten, nur scheint er damit nicht durchzudringen. Geld, schreibt er, und das ist wichtig, sei immer nur ein Teil der Geschichte. Denn nicht nur hat sich der materielle Wohlstand der vielen Millionen Nicht-mehr-Armen vergrößert. Sie leben auch länger, sind gesünder, sie haben Bildungschancen und mit all dem überhaupt erst die Grundlage für ein freies Leben.

Man darf bei der Geschichte dieses großen Ausbruchs aber nicht den Teil vergessen, der von den relativen Verlierern erzählt. Von Industrie- und Bergbau-Arbeitern in den USA, Großbritannien oder auch Deutschland, denen die neue Konkurrenz aus dem fernen Osten plötzlich die Jobs wegnahm. Von Wohlhabenden und Mittelschichtlern in den alten Industriestaaten, die Angst haben vor dem materiellen Abstieg, sich eingeengt und womöglich bedroht fühlen vom schnellen Fortschritt der anderen. Krise, Stillstand, und zähes Wachstum hier, Aufstieg und Fortschritt dort. Zahlreiche arme Länder - und wieder: China und Indien - haben einst die Herausforderung der Globalisierung angenommen und meistern sie, jeweils auf ihre Weise, nicht immer nachvollziehbar.

Wenn einem guten Teil der westlichen Gesellschaften der sichere Boden der geradlinigen Erwerbsbiografien entzogen wird, hat das auch damit zu tun. Zwischen dem großen Ausbruch und der Abstiegsangst gibt es also Berührungspunkte.

Dieses Kapitel der Geschichte erzählt der Weltbank-Ökonom Branko Milanović, der in mehreren Veröffentlichungen gezeigt hat, welche Gruppen am wenigsten von der Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte profitierten: Es sind die unteren Mittelschichten der alten Industrieländer, deren Einkommen seit vielen Jahren stagnieren und die zugleich eine wachsende Ungleichheit innerhalb ihrer nationalen Gesellschaften spüren. Natürlich muss man die Ungleichheitsdebatte auf nationaler Ebene führen, denn Sozialpolitik ist nationale Politik. Aber ohne die globale Perspektive, ohne die Erzählung vom großen Ausbruch, ist diese Debatte unvollständig.

Wenn sich der Raum der individuellen Freiheit (mindestens die negative Freiheit, also Freiheit von Armut und Verderben) auf so viele Menschen ausgedehnt hat, dann ist das eine großartige Errungenschaft, ein gewaltiger Erfolg in diesem so sehr in Misskredit geratenen Zeitalter der Globalisierung. Das gilt es zu würdigen. Das Entstehen einer globalen Mittelschicht mag bedrohlich wirken, deshalb ist die Antwort immer häufiger eine nationalistische Besitzstandswahrung. Damit aber wird die abstrakte Abstiegsangst für viele umso schneller und häufiger in einen tatsächlichen Abstieg münden.

Drei Thesen

Die Diagnose: Es mangelt an Anerkennung für die Erfolge im Kampf gegen die Armut

Die Folge: Massenweise Fehlurteile über den Zustand der Welt

Das Gegenmittel: Eine neue, globale Betrachtungsweise

Ohne einen modernen, starken Wohlfahrtsstaat werden sich die Abgehängten und Verängstigten aber gleichzeitig nicht mehr von der Globalisierung überzeugen lassen. Auch wenn man es tun sollte: Es wird nicht genügen, sie aufzufordern, die Erfolge im Kampf gegen globale Armut anzuerkennen, die Globalisierung des Wohlstands und der Teilhabe. Letzteres ist überhaupt nicht optimal gelaufen, noch immer prägen Ausbeutung und Unterdrückung viele Teile der Welt. Aber, zur Erinnerung: In absoluten Zahlen sind binnen kurzer Zeit mehr Menschen der extremen Armut entkommen, als zusammengenommen in der EU und Nordamerika leben.

Das theoretische Futter für dieseglobale Perspektive findet man bei den großen Denkern des egalitären Liberalismus. Einer von ihnen war der amerikanische Rechtsphilosoph Ronald Dworkin, der seiner Gerechtigkeitstheorie die Gleichheit als Prinzip des Rechts zugrunde legte. Die Verantwortung für das eigene Tun sieht Dworkin ausschließlich beim Einzelnen, klassisch liberal; nicht aber die Voraussetzung, überhaupt verantwortlich handeln zu können: Jeder soll unabhängig von seinen Fähigkeiten und Leistungen auf der Ebene der materiellen Ressourcen möglichst gleichgestellt sein.

Die soziale Frage darf sich nicht mehr nur auf die eigene Gesellschaft beschränken

Dworkins versöhnlicher Liberalismus bietet eine Grundlage für zwei moralische Argumente in der aktuellen Auseinandersetzung mit der Ungleichheit. Das erste betrifft den weiteren Kampf gegen die Armut. Es wird verdammt schwierig, auch den verbliebenen 700 Millionen Menschen den Ausbruch aus der extremen Armut zu ermöglichen. Mit dem fatalen Rückzug ins Nationale gilt das noch einmal mehr. Aber dieser Kampf ist und bleibt eine moralische Verpflichtung der Reichsten dieser Welt. Frei nach Dworkin und seinen Geistesgenossen: Die Armen in Laos oder Haiti haben die gleiche Rücksicht und den gleichen Respekt verdient wie ein jeder hierzulande, jeder einzelne Ausbruch ist ein Erfolg, egal wo. Man kann an dieser Stelle einen Satz des amerikanischen Theoretikers Michael Walzer interpretieren, der in seinem 1983 erschienenen Werk "Sphären der Gerechtigkeit" andeutet: "Die soziale Welt wird eines Tages anders aussehen, als sie es heute tut, distributive Gerechtigkeit wird einen anderen Charakter annehmen, als sie es heute für uns hat." Nach Jahrzehnten der Globalisierung muss die soziale Frage neu gestellt werden. Sie auf den Dunstkreis der eigenen Gesellschaft zu beschränken, wird der Realität nicht mehr gerecht.

Das zweite wichtige Argument in der Auseinandersetzung mit der Ungleichheit betrifft wieder die nationale Ebene. Wenn es stimmt, was Branko Milanović und seine Co-Autoren schreiben: dass ein bedeutender Teil der Bevölkerung in den Industrienationen von der Globalisierung zu wenig hatte - dann sind die westlichen Sozialstaaten ihrer Verantwortung nicht mehr gerecht geworden. Dann hatte Ralf Dahrendorf recht, als er 2005 darauf hinwies, wie ähnlich unsere Gesellschaft der Dystopie von Michael Young in "The Rise of The Meritocracy" geworden ist: Einer elitären Meritokratie, einem System, das Leistung betont und den Blick für die Abgehängten vernebelt - also auch für die absolut Armen dieser Welt.

Eine moderne egalitär-liberale Haltung betont die Verantwortung für diejenigen, die in extremer Armut verharren genauso wie für die Bürger im Inland, die es vor den sozialen Härten der Globalisierung zu schützen gilt. Beides zusammen ist möglich. Man darf nur weder das eine, noch das andere vergessen.

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