Samstagsessay:Die Zeit des Stillstands

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Im September wird ein neuer Bundestag gewählt und eine neue Regierung. Wirtschaftspolitisch wird die Zeit bis dahin trostlos. Aber auch die Jahre zuvor waren nicht besser. Ein Klageruf.

Von Marc Beise

Sieben fette Jahre, sieben magere Jahre? Diesen Turnus kennt die Bibel. Dagegen heißt der Wahlrhythmus der Bundesrepublik Deutschland aus Sicht des wirtschaftspolitischen Betrachters: auf drei gute Jahre folgt ein schlechtes Jahr - bestenfalls, kann man einschränken. Denn es ist noch sehr die Frage, ob sich überhaupt sonst viel bewegt; aber dazu später.

Zunächst: Alle vier Jahre wird der Bundestag gewählt und davor läuft erfahrungsgemäß wirtschaftspolitisch wenig. Wer interessiert ist an großen Würfen, großen Debatten, großen Entscheidungen, für den beginnt jetzt wieder eine Durststrecke, und das ist eigentlich ein Frust. Pausenlos werden Themen hochkommen (die Wahlkämpfer selbst sagen dazu: "Eine Sau wird durchs Dorf getrieben"), ohne dass die einmal begonnene Debatte wirklich zu Ende geführt würde, oder auch nur dass sie tatsächlich ehrlich, konsequent und inhaltsgetrieben betrieben würde.

Stillstand im Wahljahr, das gilt jedenfalls, wenn es um Zumutungen für den Bürger geht, der ja Wähler ist. Wenn's um Geld geht, verstehen die Deutschen keinen Spaß, also kommt die Ankündigung neuer Belastungen gar nicht gut, weiß jeder Wahlkämpfer. Vor allem die Grünen haben das wiederholt erlebt: Fünf D-Mark für einen Liter Benzin, der Umwelt zuliebe, diese Forderung zerlegte die Partei 1998 beinahe. Und höhere Steuern für Besserverdiener, das Programm des Spitzenmanns Jürgen Trittin 2013 - es galt nach der Wahl intern als Stimmenkiller.

Im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf ist soeben das Prinzip des vorauseilenden Gehorsams vor dem Wähler regelrecht pervertiert worden: Kandidat Donald Trump versprach bedenkenlos das Blaue vom Himmel herunter, während seine Gegenspielerin Hillary Clinton ihre Positionen tagesaktuell und punktgenau an aktuellen Meinungsumfragen orientierte, was die Leute in Florida oder Illinois oder Kalifornien an diesem und jenem Tag gerade so hören wollten und was nicht.

Wolfgang Schäuble: der Minister, der mit dem Sparschwein spielt

So professionell sind die Wahlkämpfer in Deutschland glücklicherweise noch nicht, aber das Prinzip ist dasselbe: Im Wahljahr gehen nur noch Allgemeinplätze und Wohltaten, einigermaßen wahllos gestreut und meist ohne erkennbares System. Nur wer ohnehin gesellschaftlich unten durch ist und auf dessen Wahlstimme es nicht ankommt, der wird beschimpft und mit Sanktionen bedroht: Die Banker. Die Manager. Die Reichen.

Erfahrungsgemäß tut sich derjenige, der noch nicht an der Macht ist, besonders leicht damit, schneidig zu sein. Auch das konnte man im US-Wahlkampf lernen, und es wird spannend sein zu beobachten, wie lange ein Präsident Trump an seinen Ankündigungen von früher festhalten wird. Auch Deutschland hat hier seine Erfahrungen gemacht, etwa mit dem Wahlversprechen von Rot-Grün, ebenfalls 1998, den demografischen Faktor des CDU-Arbeitsministers Norbert Blüm in der Rentenversicherung abzuschaffen. Also die gesetzliche Reaktion darauf, dass das Umlagesystem an seine Grenzen kommt, sobald nicht mehr viele Arbeitnehmer wenige Rentner finanzieren, sondern immer weniger Arbeitnehmer immer mehr Rentner. Dass dies ein goldrichtiger Schritt von Blüm war und die Abkehr davon ein großer Schmarrn, jedem Fachmann war es von Anfang an klar. Und natürlich musste die dann gewählte Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder, nachdem sie zunächst wie versprochen den Blüm-Modus abschaffte, am Ende dann etwa Ähnliches einführen - unter anderem Namen, weniger konsequent und einige Jahre zu spät.

Illustration: Sead Mujic (Foto: Illustration: Sead Mujic)

Ein erstes Ergebnis der Spurensuche lautet also: Im Wahljahr werden, wenn überhaupt, zielgerichtet Wahlgeschenke verteilt oder angekündigt.

Selbst darüber kann sich häufig nur freuen, wer nicht sehr genau hinblickt. So hat der Finanzminister den Bürgern für 2017 eine leichte Steuersenkung gewährt, wie schön. Der Gesundheitsminister aber nimmt das Geld dem Bürger gleich wieder weg durch den höheren Beitragssatz zur Pflegeversicherung und den höheren Zusatzbeitrag vieler Krankenkassen.

Beide Minister gehören der CDU an, und sie arbeiten Hand in Hand. Der eine, Wolfgang Schäuble, versorgt die Bürger, mehr schlecht als recht. Verräterischerweise gibt er sich gar nicht erst groß Mühe, das Geschenk an die Bürger schön zu verpacken. Was er hat, will er eigentlich behalten, und wenn überhaupt, will er die Bürger steuerlich in der nächsten Legislaturperiode entlasten, wie er jetzt im Interview mit der Süddeutschen Zeitung angekündigt hat, aber auch das ist eher dürr begründet. Wolfgang Schäuble - der Minister, der mit dem Sparschwein spielt. Der dankbar einstreicht, was die gute Konjunktur, prosperierende Firmen und die hohe Beschäftigung ihm so in die Kasse spülen, ganz zu schweigen von den historisch niedrigen Zinsen, die der Bund an den Finanzmärkten für seine Schulden zahlen muss.

Der andere, Gesundheitsminister Hermann Gröhe, hat das, was er den Bürgern nimmt, raffiniert in zwei Tranchen gestückelt. So fällt es dann weniger auf. Der größere Teil des Beitragssprungs bei der Pflege von einem halbes Prozentpunkt - das ist immerhin ein Viertel mehr als bisher - war schon 2016 fällig: 0,3 Prozentpunkte. Im Wahljahr kommen nur noch 0,2 Prozentpunkte dazu, die kleinere Hälfte also, wie angenehm. Eigentlich hätte Gröhe sogar noch kräftiger zulangen müssen - wenn er nicht die Reserve des Gesundheitsfonds um 1,5 Milliarden Euro erleichtert hätte. Geld, dass die Bundesregierung den Beitragszahlern auch hätte zurückgeben können. Ebenso wie die bald zwölf Milliarden Euro, die die Bundesagentur für Arbeit in den vergangenen Jahren angesammelt hat und jetzt gegen den Rat vieler (nicht aller) Fachleute bunkern darf.

Übrigens könnte der Beitrag zur Rentenkasse heute deutlich niedriger liegen, hätte die Koalition nicht viel Geld durch ihre Beschlüsse zur Rente mit 63 und der Mütterrente gebunden, Maßnahmen, die von vielen Experten als kontraproduktiv gescholtenen werden.

Damit sind wir bei einem Trend, der über das Wahljahr hinaus weist. Drei gute, ein schlechtes Jahr? Das gilt nur, wenn man Wirtschaftspolitik vor allem als Sozialpolitik versteht, also als die Zuweisung weiterer staatlicher Leistungen und Vergünstigungen. Denn in der Tat hat die große Koalition unter Angela Merkel vor allem zu Beginn der Legislaturperiode einiges auf den Weg gebracht, darunter neben den bereits erwähnten Leistungsausweitungen in der Rente beispielsweise auch den gesetzlichen Mindestlohn.

Der wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium hat darauf hingewiesen, dass die Sozialbeiträge nach 2030 von heute rund 40 auf mehr als 50 Prozent des Bruttolohns steigen werden, und es wäre noch mehr, wenn nicht die Sozialsysteme zusätzlich steuerfinanziert werden. Auch dieses Geld kommt letztlich von den Bürgern. Das nächste Zwischenergebnis der Spurensuche lautet also: In den anderen Jahren der Legislatur wird durchaus regiert, aber es werden fast nur höhere Sozialleistungen eingeführt.

Der langjährige Beobachter erinnert sich wehmütig an Zeiten, als noch große Steuerreformen mit Entlastungswirkung diskutiert und sogar beschlossen wurden: Als dereguliert und Bürokratie abgebaut wurde. Als der Arbeitsmarkt flexibilisiert wurde. Nicht nur, aber maßgeblich wegen dieser Reformen (die zu einem guten Teil übrigens von SPD-Kanzlern und Ministern verantwortet wurden) steht Deutschland in der Welt heute stark da.

Stünde die Welt jetzt still, wäre das ja auch alles gut. Dann könnten auf Jahrzehnte der Liberalisierung jetzt Jahrzehnte der Sozialisierung folgen. Nur leider steht die Welt nicht still.

Wagenknecht im Disput mit Merkel um das richtige Wirtschaftssystem - ein Traum

Sondern der hochgezüchtete Industriestandort Bundesrepublik Deutschland muss sich international bewähren, die unaufhaltsame Globalisierung bringt andre Staaten nach vorne, der wachsende Protektionismus gefährdet das deutsche weltoffene Erfolgsmodell. Deshalb braucht es mehr Freiheit im Markt, mehr Beweglichkeit, mehr Anreiz für Investitionen und Innovationen. Die große Steuerreform ist wichtiger denn je. Eine gezielte Förderung der Digitalisierung auch. Nicht nur reden und an die nächste Legislaturperiode denken, sondern einfach: machen - das wäre das Gebot der Stunde.

Stattdessen plant man schon mal den Ausbau von Sozialleistungen. Dafür steht als Beispiel der zunehmend populärere Vorschlag eines bedingungslosen Grundeinkommens, eine Art Startkapital vom Staat für alle. Wir wissen noch gar nicht, ob es die Verlierer der Digitalisierung so geben wird wie geunkt, aber wir planen schon mal deren Versorgung - statt dass man erst einmal dafür sorgt, dass Deutschland überhaupt eine leistungsfähigeres Steuerrecht hat und dass eine durch und durch digitalisierte Industrie entsteht, die den hier führenden Großnationen Amerika und China Paroli bieten kann.

Sahra Wagenknecht, als Fraktionsvorsitzende der Linkspartei die Oppositionsführerin im Bundestag, ist da konsequenter. Sie lehnt das bedingungslose Grundeinkommen ab, weil es, wie sie sagt, ein Kurieren an den Symptomen eines Wirtschaftssystems ist, das sie ändern will. Darüber könnte man nun wunderbar diskutieren. Hat Wagenknecht recht mit ihrer Fundamentalkritik? Oder ist nicht doch das marktwirtschaftliche Wirtschaftssystem mit seinem Prinzip von Angebot und Nachfrage, unterstützt durch die Steuerungsfunktion des Preises, bei aller Unvollkommenheit immer noch das beste System? Und rechtfertigt sich dieses System moralisch nicht durch die staatlich organisierte Umverteilung - die aber eben nur so weit gehen kann, wie es die Wirtschaftskraft des Landes zulässt?

Müssen also nicht zuerst die Angebotsbedingungen etwa für Unternehmen verbessert und die finanziellen Spielräume der Bürger erweitert werden, um mehr Wachstum und mehr staatliche Leistungsfähigkeit zu generieren? Darüber könnte man mal richtig heftig diskutieren. Sahra Wagenknecht stünde dazu bereit. Nur kann man sich nicht vorstellen, dass sich Kanzlerin Merkel diesem Disput mit Lust und Leidenschaft stellt.

Das Wahljahr? Wird vermutlich wieder eine ziemlich trostlose Veranstaltung.

© SZ vom 14.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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